Eines Abends in Paris
großen Anklang. Auf diese Weise beschäftigte sich Madame Bonnard sinnvoll und konnte doch tagsüber zu Hause sein. Und sie wusste auch einiges über die Bewohner in der Rue de Bourgogne. Sobald ich den Namen Mélanie erwähnte, fiel ihr ein, dass Madame Dupont (Madame, nicht Mademoiselle, aber dunkelblond und hübsch und alleinstehend) einen ebensolchen Vornamen trug.
»Eine reizende Person, diese Mélanie Dupont«, erklärte sie mir. »Obwohl sie nicht viel Glück hatte im Leben.«
Ich jauchzte innerlich auf.
»Aber sie ist leider nicht zu Hause, ich habe schon bei ihr geschellt«, sagte ich dann.
»Ich weiß«, erwiderte Madame Bonnet und ihre Ohrringe untermalten ihre Worte mit einem leisen Schaukeln. »Madame Dupont kommt erst morgen wieder oder heute ganz spät. Sie musste ein paar Tage weg und hat mich gebeten, ihre Zeitungen aus dem Briefkasten zu nehmen.«
Ich konnte mein Glück kaum fassen. Das war Mélanie, ohne Zweifel! Ich ballte meine Hände in den Hosentaschen, um mir die Erregung nicht anmerken zu lassen. Nach einem zugegeben etwas mühseligen Anfang hatte ich Mélanie nun doch gefunden. Und der Grund, weshalb sie nicht ins Kino gekommen war, lag nun auf der Hand. Sie war noch gar nicht aus der Bretagne zurück. Wer weiß, was sie dort aufgehalten hatte. Auf jeden Fall nicht ein fremder Mann in einem dunklen Mantel! Der war, wie es aussah, dann wohl doch aus der Wohnung von dieser Mademoiselle Leblanc gekommen. Ich unterdrückte ein Kichern. Auch ich war schon recht vertraut mit dem alten Haus in der Rue de Bourgogne und seinen Bewohnern.
Ich beschloss, Mélanie eine Nachricht zu hinterlassen, einen Brief! Und als ich aufgeregt zum Schreibwarenladen hinüberlief und beinahe von einem Auto erfasst worden wäre, das mit eindeutig zu hoher Geschwindigkeit die kleine Straße entlangraste, und dann feststellen musste, dass das Geschäft schon geschlossen hatte, war Madame Bonnet so freundlich, mir mit einem Blatt Papier und einem Kuvert auszuhelfen.
Hastig kritzelte ich ein paar Zeilen auf das Blatt und steckte es in den Umschlag. Dann ging ich zum vierten Mal an diesem Abend an der alten Kastanie vorbei. Ich zögerte einen Augenblick und liebäugelte mit der Idee, den Brief, auf dem schlicht »Für Mélanie von Alain« stand, an dem alten Baum zu befestigen – die Vorstellung, dass Mélanie nachts oder früh am Morgen in den Hof treten und meine Botschaft an einem Baum finden würde, fand ich zutiefst romantisch. Inzwischen hatte ich das Lebensgefühl des jungen Goethe aus dem gleichnamigen Film – ein Verliebter, der zu allem bereit auf seinem Pferd durch eine unendlich grüne Landschaft galoppiert, ja nahezu fliegt, um zu seinem Mädchen zu kommen.
Der Film Goethe!, eine deutsche Produktion mit jungen, zum Teil ganz unbekannten Schauspielern, war erst vor ein paar Monaten im Cinéma Paradis gelaufen.
Goethe hätte den Brief sicher an die alte Kastanie gehängt. Aber mir erschien es doch zu unsicher. Der Brief konnte herunterfallen oder gar von einer anderen Person weggenommen werden, obwohl es mir sehr unwahrscheinlich erschien, dass es in diesem Haus, in dem die meisten Bewohner sich nicht wirklich zu kennen schienen, oder wenn doch, nicht gut aufeinander zu sprechen waren, noch eine weitere Mélanie geben sollte.
Ich durchquerte den Innenhof, betrat das Vordergebäude und stand dort einen Augenblick vor den schwarzen Postkästen, meinen Brief in der Hand. Folgendes hatte ich geschrieben:
Liebe Mélanie,
Du bist am Mittwoch nicht gekommen und ich hatte schon angefangen, mir Sorgen zu machen. Ich hätte dich angerufen, aber ich habe Deine Nummer nicht. Nun höre ich gerade, dass Du erst heute Abend oder morgen früh zurückkehrst.
Ich hoffe, es ist alles in Ordnung? Ich habe mich so sehr über Deinen kleinen Brief gefreut und ihn mindestens schon hundert Mal gelesen. Eben noch habe ich unter der alten Kastanie gestanden, wo wir uns geküsst haben. Ich vermisse Dich! Bitte melde Dich, wenn Du wieder zurück bist, meine kleine Nicht-Abenteurerin. Ich erwarte Deinen Anruf in zärtlicher Ungeduld.
Alain
Unten auf die Seite hatte ich meine Telefonnummer geschrieben. Ich schob den Brief durch die kleine Metallklappe des Kastens, auf dem Dupont stand und hörte das leise Geräusch, mit dem er nach unten fiel. Ich lächelte zufrieden. Nun musste ich nur noch warten.
Im Rückblick habe ich oft gedacht, es wäre vielleicht besser gewesen, es wie Goethe zu machen und meiner ersten Eingebung zu
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