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Eines Abends in Paris

Eines Abends in Paris

Titel: Eines Abends in Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Barreau
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Schlüssel zu allem wurde, was mir damals so unerklärlich schien.
    Ich träumte von Mélanie. Es war der Silvesterabend und sie trug ihren roten Mantel. Wir befanden uns auf einem Fest und schlenderten Arm in Arm durch die Säle eines großen alten Gebäudes. Überall hingen barockähnliche Spiegel an den Wänden, Kerzen flackerten, Menschen drängten sich in den Räumen. Die Frauen trugen Kleider mit gebauschten, seidenen Röcken und schmalen Taillen, die Herren enganliegende Dreiviertelhosen und Gilets, aus denen gerüschte Ärmel hervorsahen. Man hatte den Eindruck, auf einem Ball im Schloss von Versailles zu sein. Doch wir waren in Paris. Das konnte man sehen, wenn man aus den hohen Fenstern des Gebäudes auf die erleuchtete Stadt blickte.
    Als die Glocken das neue Jahr einläuten, gehe ich mit Mélanie in einen der Säle, wo man einen riesigen Flachbildschirm aufgehängt hat. Er zeigt im Wechsel Bilder von den Plätzen der Stadt, an denen gerade gefeiert wird: den Arc de Triomphe, die Champs-Elysées, den Eiffelturm, die Glaspyramide vor dem Louvre, die Hügel des Montmartre, die Brücken und die Boulevards, auf denen die Autofahrer ausgelassen hupen.
    Wir gehen noch ein wenig umher, dann halte ich Ausschau nach Mélanie, die irgendwo stehen geblieben ist. Als ich noch einmal in den Raum mit dem großen Flatscreen zurückgehe, sehe ich, dass auf dem Bildschirm Bilder von der Erde übertragen werden. Die Welt ist eine blaue Kugel, die unter uns zu schweben scheint. Plötzlich erfasst mich eine unerklärliche Angst. Ich laufe an die hohen Fenster. Draußen nichts als Dunkelheit.
    Und dann begreife ich es: Paris ist ein Raumschiff geworden, das sich unaufhaltsam von der Erde entfernt. Wir sind bereits Lichtjahre entfernt, die feiernden Menschen um mich herum, die in ihren Rokokokostümen lachen und tanzen, haben es noch nicht bemerkt.
    Ich irre durch die Säle, auf der Suche nach Mélanie, auf der Suche nach irgendeinem vertrauten Gesicht. In einem Raum sehe ich Ständer mit Kleidungsstücken, die ich in fieberhafter Hast durchwühle – ich schiebe die Kleiderbügel zur Seite, auf denen nach Größen geordnet Kinderkleider hängen, Sommerkleider für Damen, Anzüge für Herren. Ich suche nach einem Anhaltspunkt.
    Ich trete wieder in einen der endlos langen Flure und bemerke eine Menschenschlange. Wartende, die für irgendetwas anstehen. Ich gehe an der Schlange vorbei und hoffe, jemanden zu entdecken, den ich kenne. Dann endlich sehe ich zwischen den Wartenden meine Eltern. Auch Mélanie ist da und Robert, selbst Madame Clément steht in der Schlange. Erleichtert rufe ich ihnen etwas zu, ich bin so froh, sie gefunden zu haben. Doch einer nach dem anderen dreht sich mir zu, mit verständnislosem Blick, so als ob ich ein Fremder wäre.
    »Papa, Maman! «, rufe ich. »Ich bin es doch, Alain.« Papa zieht bedauernd die Augenbrauen hoch und schüttelt den Kopf. Maman sieht mich an und in ihren Augen liegt nichts.
    »Mélanie, wo warst du denn die ganze Zeit? Ich habe dich schon gesucht …«, versuche ich es noch einmal. Doch auch Mélanie wendet sich ratlos von mir ab.
    Keiner scheint mich zu kennen, keiner erinnert sich an mich, nicht einmal Madame Clément, nicht einmal mein Freund Robert.
    Meine Panik wächst, meine Verzweiflung steigt ins Unermessliche. Warum stehen sie alle so da, als ob sie mich noch niemals gesehen hätten? Ich gehe weiter und sehe eine Gestalt weiter vorne, die mir vertraut vorkommt. Es ist Onkel Bernard. Jetzt erst erkenne ich, dass die Menschen an einem Kassenhäuschen anstehen. Es sieht so aus wie das Kassenhäuschen vom Cinéma Paradis.
    Aber Onkel Bernard ist doch schon tot, denke ich. Trotzdem rufe ich seinen Namen. Er wendet sich mir zu und lächelt sein friedliches, vergnügtes Lächeln.
    »Onkel Bernard!«, rufe ich erleichtert.
    »Wer sind Sie?«, fragt er erstaunt. »Ich kenne Sie nicht.«
    Ich stöhne auf und krümme mich einen Moment lang verzweifelt zusammen. »Aber, Onkel Bernard, ich bin es doch. Alain. Weißt du denn nicht mehr? Ich bin doch nachmittags immer ins Kino gekommen und wir haben zusammen die Filme geschaut. Mélier!«, rufe ich. »Die Lokomotive! Das impressionistische Kino! Cocteau, Truffaut, Chabrol, Sautet …« Ich nenne die Namen aller bedeutenden Regisseure, die mir einfallen, in der Hoffnung, irgendeine Regung in seinem gutmütigen Gesicht auszulösen, das jetzt so verständnislos dreinblickt wie das eines Alzheimer-Patienten.
    »Giuseppe Tornatore«,

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