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Eines Abends in Paris

Eines Abends in Paris

Titel: Eines Abends in Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Barreau
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und einer gewissen Logik nicht entbehrte.
    Bisher war die Frau im roten Mantel einfach spurlos verschwunden gewesen. Dafür konnte es tausend Gründe geben, die nichts mit mir zu tun hatten. Und solange ich Mélanie nicht wiederfand, konnte ich mir zumindest vormachen, irgendeine schicksalhafte Fügung hätte unsere Liebe verhindert. Selbst die Vorstellung, dass Mélanie niemals nach Paris zurückgekehrt war, wäre leichter zu ertragen gewesen, als die niederschmetternde Erkenntnis, die dieser Abend gebracht hatte:
    Die Frau, nach der ich gesucht hatte, war hier in Paris. Sie lebte, ganz offensichtlich. Und sie wollte – noch offensichtlicher – nichts mehr mit mir zu tun haben.
    Eine junge Frau in einem weißen Sommerkleid war vor mir davongelaufen, und was auch immer sie für Gründe hatte – es war unzweifelhaft Mélanie gewesen. Ich wusste es von dem Moment an, als ich sie auf dem Dach des Centre Pompidou aus der Ferne sah. Und hätte ich am Anfang auch nur den leisesten Zweifel gehegt, so wäre dieser spätestens auf dem Gleis der Métro zur Gewissheit geworden.
    Nur wenige Zentimeter hatten uns getrennt, als sie hinter der Wagentür stand, und ich sah in ihrem Blick, dass auch sie mich erkannte. Was hätte eine wildfremde Person denn für eine Veranlassung gehabt, mich auf diese Weise anzuschauen? Was hätte sie für eine Veranlassung gehabt, ihre Hand von innen gegen die Scheibe zu drücken – gegen meine Hand, so wie es zwei Menschen in einer letzten sehnsuchtsvollen Geste tun, um sich ihrer Liebe zu versichern, bevor der Zug aus dem Bahnhof rollt?
    Ich lachte bitter auf. Das alles machte keinen Sinn. Plötzlich musste ich an diese ersten Sekunden Filmgeschichte denken, die in grobkörnigen Schwarz-Weiß-Bildern einen einfahrenden Zug zeigten; ich dachte an das Gemälde mit der in Rauch gehüllten Lokomotive, das ich vor langer Zeit im Jeu de Paume bestaunt hatte, und an meine kindlichen Schlussfolgerungen darüber, was Impressionismus bedeutete. Das französische Kino ist ein zutiefst impressionistisches, hatte Onkel Bernard gesagt.
    Damals meinte ich, etwas verstanden zu haben. Doch die Wirklichkeit, in der ich mich gerade wiederfand, war zutiefst surreal. Und ich verstand nichts.
    Ich ging durch die Dunkelheit wie durch ein Paralleluniversum, in dem andere Gesetze herrschten, und ich fragte mich, ob ich jemals daraus erwachen würde.
    In dieser Nacht hatte ich einen Traum. Es war einer jener Träume, an die man sich noch lange Zeit nach dem Aufwachen erinnert, vielleicht sogar sein Leben lang, als das Schlimmste, das man jemals geträumt hat.
    Es gibt diese kollektiven Bilder der Angst, die irgendwo in unserem Unterbewusstsein lauern, meistens sind es kurze Sequenzen, in denen man ertrinkt oder tief fällt, sich verirrt oder von dunklen Schatten verfolgt wird und in Panik davonlaufen will, ohne sich rühren zu können. Und dann wiederum gibt es jene Nachtstücke, die sich mit einem ganz individuellen Schrecken an den Träumenden hängen und aus den Versatzstücken seiner Eindrücke eine eigene dunkle Phantasie erschaffen.
    Träume wie: Ich gehe über den Friedhof und entdecke plötzlich den Grabstein eines geliebten Menschen, der eigentlich noch lebt. Oder: Ich stehe in einem Raum mit neun Türen. Ich möchte unbedingt hinaus, doch hinter jeder Tür, die ich öffne, ist eine undurchdringliche Gummiwand. Oder: Ich fahre im Aufzug eines Hotels. Ich möchte in den fünften Stock zurück, weil dort das Zimmer ist, in dem meine Frau auf mich wartet. Doch immer, wenn ich im fünften Stock anhalte, trete ich in einen mir unbekannten Flur. Ich kann den Ort, den ich erreichen will, nicht mehr finden.
    So verschieden das Leben der Menschen ist, so vielfältig sind wohl auch die Arten, wie die größten Ängste ihren Ausdruck finden. Und obwohl in meinem Traum keine Messer vorkamen, keine dunklen Gestalten, die sich auf mich stürzten und mein Leben bedrohten, versetzte mich der Ausgang dieses anfangs so märchenhaften Traumes in einen Zustand abgrundtiefer Traurigkeit. Am Ende hatte ich alles verloren.
    Noch heute erinnere ich mich an jede Einzelheit, an die seltsam beklemmende Atmosphäre, an meine unglaubliche Verstörtheit, die noch lange nach dem Aufwachen anhielt.
    Und doch – so furchtbar der Traum auch war – er war letztlich der Grund, weshalb ich am Tag darauf noch einmal in das Cinéma Paradis ging, auf der Suche nach etwas, das ich die ganze Zeit übersehen hatte. Ein Detail, das schließlich der

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