Eines Abends in Paris
gegenüberliegenden Gleis fuhr der Zug ein.
»Nein!«, schrie ich und stürzte die Treppen hinunter. Die letzten fünf Stufen übersprang ich und landete mit einem kühnen Satz auf dem Steinboden. Ich knickte um, verlor einen Schuh, egal, ich rannte und humpelte auf Strümpfen weiter, mit suchenden Blicken den Zug entlang, dorthin, wo Mélanie in einen der hinteren Wagen eingestiegen war.
Mein Herz hämmerte, meine Kehle brannte, ich spürte einen stechenden Schmerz im linken Fuß, und dann entdeckte ich sie.
»Mélanie!«
Es war zu spät. Ein schriller Warnton gellte in meinen Ohren.
Ungerührt und in schönstem Synchronismus schlossen sich die Türen der Métro vor meiner Nase.
»Nein!«, schrie ich in wilder Verzweiflung. »Halt!«
Ich sah Mélanie hinter der Scheibe stehen und hämmerte mit der Faust gegen das Fenster. Ich trat in sinnloser Erregung ein paar Mal gegen die Tür. Mein Gesicht war hochrot, mein linkes Auge blau verfärbt, meine Haare wirr, das Hemd hing mir aus der Hose. So sehen Menschen aus, die völlig außer Kontrolle geraten sind. Schlägertypen, die Streit suchen, oder Amokläufer, die ohne Sinn und Verstand um sich schießen.
»Mais, Monsieur, je vous en prie! Was ist denn das für ein Benehmen?!«, wies mich irgend so ein Kerl im Lacoste-Pullover zurecht.
»Ach, halt die Schnauze, du Honk«, schrie ich und er flüchtete sich hinter einen Papierkorb. Die Métro zischte.
Mit hängenden Schultern stand ich da und starrte Mélanie an, die die Haltestange umfasst hatte und stumm zurückschaute. In ihrem Blick lag eine seltsam schicksalsergebene Traurigkeit, die mir jede Kraft nahm. So sah man jemanden an, von dem man sich für immer verabschiedete. Verabschieden musste.
Ich begriff nicht, was hier geschah. Ich verstand nicht, was ich getan hatte. Ich war der Idiot in einem Film, dessen Drehbuch ich nicht kannte. Ich stand auf einem Gleis der Métro-Station Rambuteau und musste mit ansehen, wie die Frau meines Lebens verschwand.
In einer letzten hilflosen Geste legte ich meine Hand an die Scheibe und schaute Mélanie mit flehender Miene an.
Der Zug setzte sich in Bewegung und dann, in der Sekunde, bevor er endgültig losfuhr, hob Mélanie ihre Hand und legte sie gegen meine.
Ich schlich nach Hause wie ein geprügelter Hund. Es war halb zwölf und ich fühlte mich nicht mehr in der Lage, ins Georges zurückzukehren und eine Erklärung für mein sonderbares Verhalten abzugeben.
Was hätte ich auch sagen sollen? Ich habe endlich die Frau wiedergefunden, die ich liebe, aber sie ist vor mir geflüchtet?
Es war Mélanie, sie war es ganz bestimmt. War sie es?
Allmählich fing ich selbst an, an meinem Verstand zu zweifeln. Vielleicht war ich einfach verrückt geworden. Verrückt vor Liebe zu einer rätselhaften Frau, die mir so nahe gekommen war wie kein Mensch zuvor und die mich mit ihrem seltsamen Verhalten in den Wahnsinn trieb.
Unglücklich humpelte ich über den Pont des Arts – mit einem Schuh und ohne Hoffnung.
Ja, es war hoffnungslos! Meine Stimmung wurde mit jedem Schritt desaströser.
Das unerwartete Zusammentreffen auf der Dachterrasse des Georges hatte die süße Wunde, mit der abzufinden ich mich gerade durchgerungen hatte, erneut aufgerissen. Ich war mir so sicher, wie man sich in meinem verwirrten Zustand nur sein konnte, dass es Mélanie gewesen war, die von der anderen Seite des Restaurants zu mir herüberschaute. Es war Mélanie gewesen, die vor mir davongelaufen war wie ein aufgeschrecktes Einhorn aus dem Märchen, es war Mélanie gewesen, die hinter der Scheibe der Métro gestanden hatte.
Ich kannte dieses Gesicht. Ich hätte es unter Tausenden erkannt. Ich hatte es berührt, mit meinen Fingern nachgezeichnet. Ich hatte mich in diesen großen braunen Augen verloren. Ich hatte diesen weichen Mund geküsst, wieder und wieder. So oft hatte er mir dieses bezaubernde kleine Lächeln geschenkt – jetzt war er ernst geblieben, fast vorwurfsvoll. Selbst wenn sie gesehen hatte, dass eine andere mich kurz umarmte – und das war ja auch schon alles gewesen –, war das doch kein Grund, so davonzustürzen.
Aufgewühlt stellte ich mir eine Frage nach der anderen, aber ich fand keine Antworten. Mein Fuß schmerzte, aber dieser Schmerz war nichts im Vergleich zu dem Schmerz, der sich über mein Herz gelegt hatte wie ein eiserner Ring. Als ich mich endlich die Rue de Seine entlangschleppte, durchzuckte mich ein Gedanke, der sich mit zunehmender Beklemmung in mir verfestigte
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