Eines Tages geht der Rabbi
müssen Sie riskieren», sagte der Rabbi. «Wann wollten Sie Ihren Rücktritt bekanntgeben?»
«Ich habe mir gedacht, daß ich bis kurz vor meiner Abreise warte, das wäre in einem Monat. Inzwischen könnte ich dem einen oder anderen konservativen Mitglied eine Andeutung machen, und sie könnten schon langsam loslegen.»
Wieder schüttelte der Rabbi den Kopf. «Das wäre nicht fair. Außerdem würde es sich herumsprechen.»
«Ja, aber was soll ich dann machen?»
Der Rabbi stand auf und begann, den Kopf nachdenklich gesenkt, auf und ab zu gehen. Vor seinem Besucher blieb er stehen. «Wissen Sie was? Sagen Sie es auf der nächsten Vorstandssitzung, diesen Sonntag.»
«Und?»
«Und dann sagen Sie, daß Ihr Rücktritt in einem Monat wirksam wird oder in sechs Wochen oder wann immer Sie tatsächlich wegziehen.»
«Verstehe.» Feinberg nickte lächelnd. «Damit haben die anderen die Möglichkeit, etwas auf die Beine zu stellen.»
«Vielleicht», sagte der Rabbi sorgenvoll.
Als Feinberg gegangen war, fragte Miriam: «Wäre es wirklich so schlimm, wenn Chester Kaplan und seine Clique ans Ruder kämen?»
«Du weißt ja, wie es in dem Jahr gelaufen ist, als er den Vorsitz hatte.»
«Du denkst an die Geschichte mit dem Grundstück auf dem Land, das er als Klausur kaufen wollte? Aber daraus hat er wahrscheinlich gelernt, so was macht er bestimmt nicht noch mal.»
«Nein? Erst gestern, beim Minjan, als wir auf einen zehnten Mann warteten, meinte er, wir sollten eine Liste führen und dann die Ehrenämter an den Hohen Festtagen nur an die vergeben, die ein bestimmtes Anwesenheitssoll erfüllt haben.»
«Das darf doch nicht wahr sein!»
«Leider doch. Und er hat bestimmt einen Haufen ähnlicher Ideen parat, die er gern verwirklichen würde. Die Entfernung der Frauenstimmen aus dem Chor etwa. Oder eine Änderung der Sitzordnung – Männer auf der einen, Frauen auf der anderen Seite.»
«Da gäbe es so viel Widerstand, daß –»
«Eben. Genau das müssen wir vermeiden, wir können uns einfach keinen Zwist leisten. In einer Stadt mit großem jüdischen Bevölkerungsanteil gehen in die konservative Synagoge Leute, die vom konservativen Judaismus überzeugt sind. Aber in einer Kleinstadt wie Barnard’s Crossing ist die konservative Synagoge ein Kompromiß zwischen drei Richtungen – den Reformern, den Konservativen und den Orthodoxen. Da müssen wir auf Ausgewogenheit achten. Wenn wir zu sehr in die eine oder andere Richtung tendieren, verlieren wir Mitglieder. Falls Kaplan und seine Leute ans Ruder kommen, besteht die Gefahr, daß die Reformleute aussteigen und einen eigenen Tempel gründen. Und die Gemeinde ist einfach nicht so groß, daß sich zwei Synagogen halten könnten. Hauptsächlich ist es das, was Feinberg Sorgen macht. Und mir auch natürlich. Aber mich beunruhigt auch, daß Kaplan und seine Gruppe eine Richtung vertreten, die ich einmal als Neue Orthodoxie bezeichnen möchte.»
«Neue Orthodoxie?»
«Ja. Sie sind unheimlich religiös. Sie legen sich mächtig ins Zeug dabei, und wenn man das so angeht, wird aus Frömmigkeit leicht Frömmelei. Mein Vater war zwar als Rabbi ein Konservativer, aber wie es bei uns zu Hause zuging, das würde man heute orthodox nennen. Mein Großvater war natürlich ein echt orthodoxer Rabbi, und meine Verwandten gingen alle in orthodoxe Synagogen. Sie hatten keine Probleme mit ihrer Religion. Sie war eigentlich mehr eine Lebensform als ein Versuch, mit dem Höchsten zu kommunizieren. Die Einhaltung der Gebote war ihnen in Fleisch und Blut übergegangen. Nichtkoscheres Essen hätten sie so wenig heruntergebracht, wie die meisten Menschen Schlangenfleisch herunterbringen. Und gesondertes Geschirr für Fleisch- und Milchprodukte zu verwenden, war ihnen so selbstverständlich wie – wie das Essen von Tellern am Tisch statt von einer alten Zeitung auf dem Fußboden. Als ich zum erstenmal zum Essen in ein Restaurant ging und sah, wie jemand sich Butter aufs Brot strich, ehe er mit dem Messer das Steak schnitt – wohlgemerkt, ich war damals im College –, hätte ich mich fast übergeben.»
«Und der Sabbat? War der nicht sehr einengend?»
«Überhaupt nicht. Es war ein Feiertag. Man zog die besten Sabbatsachen an und ging zur Synagoge. Zum Mittag gab es etwas besonders Gutes. Es war ein Tag, an dem man Besuche machte oder selbst Besuch bekam. Mein Großvater fragte mich nach dem, was ich im Lauf der Woche in der Religionsschule gelernt hatte, und manchmal, besonders
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