Einfach Abschalten
schaffen, ein »Kopfkino«, dem man stehend applaudieren möchte, kommt es auf eines mehr an als auf alles andere: auf Tiefgang. Wir alle wissen, was Tiefe ist, dennoch ist es schwierig, es in Worte zu fassen. Es ist eine bestimmte Art von Aufmerksamkeit, des Empfindens oder Verstehens, die entsteht, wenn wir uns wirklich auf einen bestimmten Aspekt unserer Lebenserfahrung einlassen.
Das kann alles Mögliche sein – eine Person, ein Ort, ein Gegenstand, eine Idee oder eine Wahrnehmung. Alles, was uns tagtäglich widerfährt, jeder Anblick und jedes Geräusch, jede persönliche Begegnung, jeder Gedanke, der uns durch den Kopf geht, ist ein Aspirant auf Tiefgang. Ohne Unterlass wägen wir ab, auf welche der vielen Optionen wir unsere Aufmerksamkeit richten wollen. Die meisten dümpeln im Randbereich unserer Gedanken herum, und dort bleiben sie auch, aber eine kleine Auswahl erreicht das geistige Rampenlicht. Dann richten wir die uns zur Verfügung stehende Reizverarbeitungskapazität auf nur eine Unterhaltung, eine faszinierende Idee, eine Aufgabe und schließen alle anderen dabei aus. So beginnt Tiefe.
Wenn Sie mit dem Auto an eine rote Ampel kommen, nehmen Sie das Haltesignal und seine Bedeutung wahr und reagieren darauf. Aber jenseits dieses automatischen, fast schon mechanischen Verhaltens widmen Sie diesem Signal keine besonderen Gedanken oder Erwägungen. Es dringt nicht bis in Ihre persönliche Sphäre vor, um sich dort einzunisten. Wie zahllose andere flüchtige Objekte Ihrer Aufmerksamkeit bleibt es am Rande, ein Nebendarsteller.
Fünf Minuten später kommen Sie nach Hause, und Ihr Hund springt Ihnen entgegen, um Sie zu begrüßen. Sie beugen sich hinunter und kraulen ihn hinter den Ohren, und der Hund wiederum leckt Ihnen ganz außer sich vor Freude auf seine typische schlabbbernde Art das Gesicht ab. Sie freuen sich darüber und über den vertrauten Hundegeruch und fragen sich, wie sein Tag zu Hause wohl gewesen sein mag, während Sie in der Welt da draußen unterwegs waren. Sie nehmen ein Stöckchen und werfen es, und während er losspringt, um es zurückzuholen, müssen Sie über seinen eifrigen Gesichtsausdruck lachen. Während Sie sich mit dem Hund beschäftigen, wird Ihr Bewusstsein von Gedanken und Gefühlen überschwemmt. Anders als bei der Ampel ist dieser Augenblick reichhaltig und so beschaffen, dass Sie seine ganze Fülle wahrnehmen. Sie sind bei Ihrem Hund und nirgends sonst. Diese Erfahrung hat Tiefe.
Es sieht vielleicht so aus, als wäre dies allein eine Frage der Zeit, die Sie mit dem Hund verbringen: Je mehr Zeit man einer Erfahrung widmet, umso tiefer wird sie. Aber so einfach ist es nicht. Ein Blick, den man durch einen Raum voller Leute schweifen lässt, kann mehr Tiefe haben als ein zweistündiges Gespräch. Es ist letztlich keine Auswirkung der Zeit oder einer anderen quantifizierbaren Eigenschaft. Die aktuelle Erfahrung bezieht ihre Bedeutung vielmehr aus dem Innenleben. »Es kommt«, schrieb der amerikanische Philosoph William James einmal, »auf das Vermögen der Seele an, sich ergreifen zu lassen, darauf, ob sie zulassen kann, dass ihre Lebensströme in den Umständen aufgehen.« 3
Wir alle haben diese Erfahrung schon einmal gemacht, und wir wissen, was sie für uns bewirkt. Die Augenblicke, die wir am meisten genießen und die wir noch lange in uns bewahren, sind diejenigen, die wir besonders tief empfinden. Tiefe verankert uns in der Welt, sie verleiht dem Leben Substanz und Ganzheitlichkeit. Sie bereichert unsere Arbeit, unsere Beziehungen, alles, was wir tun. Sie ist das, was ein gutes Leben ausmacht, und eine der Qualitäten, die wir an anderen am meisten bewundern. Große Künstler, Denker und Führungspersönlichkeiten eint die ausgeprägte Fähigkeit, sich von einer Idee oder einer Aufgabe gefangen nehmen zu lassen, ein inneres Engagement, das sie dazu bringt, eine Vision zu verfolgen, ohne sich von Hindernissen aufhalten zu lassen. Ludwig van Beethoven, Michelangelo, Emily Dickinson, Albert Einstein, Martin Luther King – sie alle nennen wir »genial«, als sei es rein ihre Intelligenz, die sie dorthin gebracht hat, wohin sie gelangt sind. Was ihnen gemein ist, ist das, wofür sie ihre Intelligenz gebraucht haben, die Tiefe, die sie in ihrem Denken erreicht und in ihrem Werk zum Tragen gebracht haben.
Nicht nur Genies haben diese Fähigkeit. Es gibt überall ganz normale Leute, die allein dadurch, dass sie mit Freude bei der Sache sind, Tiefe bei allem zu erleben
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