Einfach Abschalten
sie Mitte der Neunziger kennenlernte, war sie gerade erst in die Vereinigten Staaten eingewandert und lernte noch die Feinheiten der englischen Sprache. Wann immer ich sie damals traf und fragte, wie es ihr ginge, antwortete sie mit einem strahlenden Lächeln: »Beschäftigt, sehr beschäftigt!«
Das war seltsam, teils, weil sie es so durchgängig sagte, und teils, weil ihre Mimik und ihr gutgelaunter Tonfall nicht zu ihren Worten passten. Sie schien geradezu außer sich vor Freude darüber, mir berichten zu können, dass sie so beschäftigt sei.
Nach einer Weile fand ich heraus, was da los war. Marie wiederholte, was sie bei Amerikanern immer und immer wieder hörte. Alle sprachen so viel darüber, wie beschäftigt sie seien, dass sie es für eine Höflichkeitsfloskel hielt, etwas, das eine Person mit guten Manieren automatisch antwortete, wenn ein Freund nach dem Befinden fragte. Statt »Gut, danke« schien man wohl zu sagen, man sei beschäftigt.
Sie irrte sich natürlich, wie sie schließlich herausfand. Aber in anderer Hinsicht lag sie völlig richtig. »Beschäftigt, sehr beschäftigt« ist genau das, was wir die meiste Zeit sind. Es ist schon erstaunlich, wie viel wir täglich um die Ohren haben und wie selten wir dabei etwas vermasseln. Wir haben so viel zu tun, dass es manchmal so aussieht, als stelle die Geschäftigkeit einen Selbstzweck dar, als ginge es um nichts anderes.
Worum geht es aber in Wirklichkeit? Was ist unterm Strich der Sinn und Zweck all dieses Jonglierens und Herumhetzens? Das ist eine dieser Fragen, über die man lieber gar nicht erst nachdenkt, weil sie so schwer zu beantworten sind. Wenn man einmal anfängt, über die eigene Geschäftigkeit nachzudenken, grübelt man bald über noch viel tiefgreifendere Fragen wie etwa: Ist das wirklich das Leben, das ich führen möchte? Von dort ist es nur noch ein kleiner Schritt zu den wirklich groß angelegten existenziellen Fragen: Warum sind wir hier? Und: Wer bin ich?
Wenige von uns drängt es dazu, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen, und selbst wenn man wollte – wer hat schon die Zeit dazu? Wir haben alle viel zu viel zu tun! Außerdem sehen wir unsere Geschäftigkeit im Grunde nicht als eine Lebensform an, die wir uns ausgesucht haben und für die wir von daher selbst verantwortlich sind, sondern als etwas, zu dem wir von Zwängen genötigt werden, über die wir keine Kontrolle haben. In unserer Vorstellung sind wir wie diese Zeichentrickfiguren, die völlig arglos die Straße hinuntergehen, bis ihnen plötzlich ein Amboss auf den Kopf fällt. Während der Cartoon-Amboss Daffy Duck wortwörtlich plattmacht, erdrückt uns der unsere auf andere Weise. Nicht unsere Körper, sondern unser inneres Selbst wird durch unsere Geschäftigkeit regelrecht am Boden festgenagelt, dieses mysteriöse Wesen, das in und durch unseren Körper lebt, wahrnimmt, denkt und das Leben fühlt, das um es herum stattfindet, Augenblick für Augenblick.
Wir fassen das Leben gerne in Begrifflichkeiten des Äußerlichen, als eine Reihe von Ereignissen, die in der physikalischen Welt stattfinden, die wir bewohnen, als etwas, das durch die Sinne wahrgenommen wird. Dabei erleben wir diese Geschehnisse in unserem Inneren, in unseren Gedanken und Gefühlen, und es ist diese innere Version der Welt, unser »Kopfkino« 2 , wie es ein führender Hirnforscher bezeichnet hat, die für jeden von uns die Realität ausmacht. Dieser Teil unseres Lebens läuft unter verschiedenen Bezeichnungen: Verstand, Geist, Seele, Selbst, Psyche, Bewusstsein. Wie immer man es nennt, es ist dieses essenzielle »du« und »ich«, das sich unter der Last von zu vielen Dingen, die zu erledigen und zu bedenken sind, windet.
»Na und?«, mag da manch einer sagen. Das Leben ist immer schon eine ermüdende Plackerei gewesen, und damit zurechtzukommen ist Teil des menschlichen Daseins. Außerdem gibt es Leute, die es zu genießen scheinen, extrem beschäftigt zu sein, ohne je einen freien Augenblick zu haben. Vielleicht sollten wir anderen alle mehr sein wie sie und lernen, das Gute an der Hektik zu sehen. Kurz: Was wir wirklich brauchen, ist eine veränderte Haltung.
Es ist eine knifflige Angelegenheit, etwas so Weitreichendes und Subjektives wie die Beschaffenheit unseres Bewusstseins zu verallgemeinern, aber das Problem extremer Geschäftigkeit ist so geartet, dass man ihr mit einer anderen Einstellung allein nicht beikommt. Wenn es darum geht, sich ein glückliches, erfüllendes Innenleben zu
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