Einfach ein gutes Leben
besonders raffinierte Form des Hervorlockens schöpferischer Reserven und Arbeitsprozesse handelt, noch um Erholung oder Entspannung im Sinne einer Reproduktion von Arbeitskraft. Der Begriff Muße steht für unvernutztes Leben, unmittelbares Dasein und die nicht entfremdete Existenz.« 74
Um das Nichtstun geht es dabei also nicht. Nichts zu tun sei ohnehin gar nicht möglich, sagt Felix Quadflieg, einer der Gründer von Otium. Es geht um das Erleben, darum, seine Sinne zu konzentrieren auf das, was einem unmittelbar unter den Händen liegt. Dass darin Gedanken an Ziele und deren effiziente Erreichung keinen Platz haben, ist Teil des Konzeptes. Muße schließt instrumentelles Denken aus. In diesem Sinne ist Otium ein »leidenschaftliches Unterlassen«. Nota bene: Man kommt auch zu einem Ziel, wenn man gar keins hat. Natürlich hat auch das müßige Tun ein Resultat, sei es, dass man etwas Neues beobachtet hat, die Welt ein Stückchen besser verstanden hat – vielleicht sogar effektiver, als hätte man sie gezielt zu verstehen versucht. Das ist das Paradoxe der Muße. »Die Umwege und Nebenwege sind manchmal schöner«, sagt Quadflieg, »man kann mehr entdecken.« Die Hirnforschung bestätigt ihn in diesem Punkt: »Wenn es um nichts gehe, entdecke der Mensch auf einmal sich selbst und könne sehr viel.« 75
Otium ist eine Lebenshaltung, keine leichtlebige Unlust gegenüber schweren Tätigkeiten. In der Antike und auch später noch war sie hoch geschätzt, »cum dignitate otium« hieß es: Muße mit Würde. Das Dasein wurde vom Zustand der Muße aus gedacht, während Arbeit hieß, nicht im Otium zu sein, und daher nicht erstrebenswert war. Daher auch ihr lateinischer Name »neg-otium«. Das neuhochdeutsche »Arbeit«dagegen bedeutet »Mühsal, Plage, unwürdige Tätigkeit«, wie die Glücklichen Arbeitslosen spitz bemerken, und leitet sich vermutlich vom indogermanischen orbho (Waise) ab. Aus orbho wurde nach dieser Theorie ein Verb mit der Bedeutung »verwaist sein, ein zu schwerer körperlicher Arbeit verdingtes Kind sein«. Die lexikalische Abstammung für des Deutschen liebste Beschäftigung ist in ihrer Tristesse keine Ausnahme, wie ein Seitenblick auf die romanischen Nachbarn zeigt: »Travail« (französisch) oder »trabajo« (spanisch) leiten sich her vom lateinischen »tripalium«, einem Folterwerkzeug, mit dem Sklaven gezüchtigt wurden. 76
Trotz all der Rohheit, die schon allein in dem bloßen Wort steckt, wurde Arbeit in unserer Zeit zum Leitprofil, und das klangvollere Otium verfiel zu einer unwürdigen Restkategorie. Mit der Arbeit verband sich in der Neuzeit allerdings von vornherein die Grundidee der Moderne, nämlich die der stetigen Verbesserung der technischen Hilfsmittel des Menschen und damit seiner Lebensumstände. Denn je besser die Technik, so das Raisonnement, desto höher die Produktivität, desto weniger also müssten die Erwerbstätigen für ihren Lebensstandard leisten. Der Endpunkt der Geschichte wäre mithin, »dass die volle Entwicklung der Produktivkräfte deren vollen Gebrauch erübrigt (besonders den der Arbeitskraft) und die Produktion zu einer nebensächlichen Tätigkeit zu machen erlaubt«. Dann würde, mit anderen Worten, menschliche Arbeit mehr und mehr eingespart (frei übersetzt: ökonomisiert) werden: »Die ›wirkliche Ökonomie‹ führt zur Abschaffung der Arbeit als dominanter Form von Tätigkeit.« 77 Ist die Muße für alle am Ende doch der Traum der Moderne? Ergebnis der Moderne ist bis dato allenfalls eine Steigerung von Freizeit, sprich arbeitsloser Zeit, die durch Fernsehen, organisierten Sport, das Web und andere »Angebote« so durchstrukturiert und kommerzialisiert ist, dass für Otium keine Minute Raum bleibt.
Felix Quadflieg hat die Zeichen der Zeit erkannt und sich den Raum geschaffen. Er hat sich von seiner Schule als Lehrer im Halbzeitstatus einstufen lassen. Die andere Hälfte widmet er Dingen, die überhaupt nichts mit dem Job zu tun haben: Theater spielen und Musik machen zum Beispiel. Er entwickelt seine Fähigkeiten weiter, ohne zu wissen, ob und was sie ihm einmal nutzen werden. Sich darauf einzulassen und eine neue Balance zwischen Arbeit und freiem Tätigsein zu finden ist eine Fähigkeit an sich – eine Mußekompetenz. Leider verfügen darüber nicht mehr viele. »Es gibt offenbar so eine verschüttete Erinnerung an etwas jenseits von Arbeitszwang, man kann aber nicht genau definieren, was es denn sein könnte, weil alles von Arbeitsorganisation
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