Einfach ein gutes Leben
der Frage, ob sie eigentlich das Leben leben, das sie wirklich wollen, oder ob sie sich nicht noch ein größeres Maß an Zugriff auf ihre Fähigkeiten wünschen, sprich ob noch Ressourcen brachliegen, die zu nutzenihnen sinnvoll vorkäme. Im Prinzip stellen sie damit die Frage nach der Realisierung der Grundbefähigungen, die im »Capability Approach« formuliert werden. Je mehr Grundbefähigungen ich nutzen kann, je weiter meine faktischen Handlungsspielräume werden, desto mehr Kontrolle habe ich über mein Leben, desto selbstbestimmter kann ich handeln. So verstanden ist Selbstbestimmung eine übergreifende Grundbefähigung, die alle anderen umschließt.
Ist das gute Leben in Selbstbestimmung also allgemeine Realität in Deutschland? Was die Arbeit angeht, zeigen besonders ihre herkömmlichen Formen, aber auch die hier vorgestellten Formen einer »anderen Arbeit« einige Einschränkungen auf. Weitere Skepsis muss aufkommen bei einem Blick auf die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der letzten beiden Jahrzehnte, ironischerweise vor allem beim Blick auf das Stichwort, das sie so sehr geprägt hat: »Eigenverantwortung«. Rhetorisch beschwört die Politik damit ein wachsendes Bewusstsein für Selbstbestimmung herauf – in Wahrheit aber produziert sie eine Mogelpackung.
Insbesondere diejenigen unter den Erwerbsfähigen, die am wenigsten in den Markt integriert sind, die Empfänger von Unterstützungsleistungen, bekommen in den letzten Jahren den Griff einer Zange zu spüren, die sie von zwei Seiten gepackt hat und nicht wieder loslässt. Von der einen Seite werden ihnen die Flexibilisierungsanforderungen aus den Unternehmen herangetragen, von der anderen, staatlichen Seite die sogenannte Aktivierungspolitik. 104 Beide verlangen: »Biete noch mehr von dir auf dem Arbeitsmarkt! Bilde dich, bemühe dich, sei rege, sei ausdauernd!« Arbeitnehmer wie Arbeitsuchende sollen sich »aktivieren«, »zu mehr Eigenverantwortung bereit sein«, letztlich also Aufgaben mitübernehmen, die ursprünglich entweder dem Staat oder dem Arbeitgeber zukamen (Absicherung gegen existenzielle Risiken, Organisation der Arbeit, Stabilisierung der Beschäftigungsbiografie und so weiter). Daraus resultieren in erster Linie mehr individuelle Verantwortung und mehr Risiko bei häufig niedrigerem Einkommen, das alles unter einem dräuenden »Nur du selbst trägst die Schuld, wenn dir dein Leben nicht gelingt (du hast schließlich alles selbst in der Hand)!«
Mit Selbstbestimmung kann das schon deswegen nichts zu tun haben, weil diese Form der »Aktivierung« die meisten heillos überfordert, sprich ihre Kompetenzen weit übersteigt. Eigenverantwortung wird so zu einem absurden Begriff, weil sie letztlich nur zu einer Anpassung an den viel beschworenen Sachzwang der Markterfordernisse erziehen soll. Andere bestimmen, dass ich bitte schön selbstbestimmter zu arbeiten habe. Eigenverantwortung ist ein abstrakter Zwang, weil schwer als solcher zu bemerken, und gerade deshalb ein besonders perfider. Zudem kommt sie unter dem Deckmantel einer nie da gewesenen Chance auf echte Selbstbestimmung daher. Eine Fliegenfalle, die nach Freiheit riecht, die Fliege aber endgültig binden soll.
Was wenige haben wollten, wird nun vielen aufgedrängt. Mit einem hohen Grad an Selbstbestimmung kann nicht jeder umgehen. Nur der Grad, der meinen individuellen Kompetenzen, Zielen und existenziellen Erfordernissen entspricht, wird als »gesunde« Selbstbestimmung empfunden, die meinem Leben förderlich ist. Aufgezwungene Eigenverantwortung lässt dem Einzelnen keine Chance mehr, herauszufinden, wo dieser Grad für ihn liegt.
Gut haben es in dieser Situation diejenigen, die Unternehmergeist, Risikobereitschaft, Lernbereitschaft, Offenheit für neue Lebensmodelle und Selbstvertrauen mitbringen (wie zum Beispiel die Arbeitssammlerinnen es tun). Schlecht haben es diejenigen, die hier vor allem Zwänge und persönliches Scheitern erleben. So brechen allmählich Risse in unserer Gesellschaft auf: zwischen denen, die freier sein wollen , und denen, die zur Eigenverantwortung gezwungen sind.
Dabei ist das Drängen nach mehr Eigenverantwortung kontraproduktiv für Leistungen, die in der Arbeit verrichtet werden. Wenn den Menschen genug Raum gegeben wäre zur Selbstaktivierung, dann würden sie auch tätig. Behandelt man sie aber wie Nichtsnutze, die ständig zur Arbeit angehalten werden müssen, dann verhalten sie sich irgendwann auch so. Das ist kein Gutmenschenargument, sondern
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