Einfach ein gutes Leben
eigenen Zugänge, Routen und Stromlinien. Ihnen folgen sie mit der Effizienz, die ihre Philosophie ihnen nahelegt, mit den möglichst schlichten, aber wirksamen Bewegungen ihres Körpers.
Schule der Stadtgesellschaft
Die Traceure verändern die Stadt nicht, sie gestalten sie nicht um (wie das zum Beispiel Sprayer tun). Sie deuten sie um und holen sich so ein Stück Lebensraum zurück, der ganz ihren eigenen Vorstellungen und Haltungen entspricht. Sie nehmen sich das Recht auf ihre eigene Stadt. Was sie tun, ist eine Form der Selbstermächtigung.
In der Stadt stoßen die unterschiedlichsten Bedürfnisse, Nutzungs- und Verwertungsinteressen aufeinander. Der einewill Waren verhandeln, der andere einen Anbieter für eine bestimmte Dienstleistung konsultieren; die eine will eine Straße zum Durchfahren benutzen, die andere zum Spazierengehen. Das Panoptikum von Interessen stört die reibungslosen Abläufe in dem komplizierten Organismus, den eine Stadt zweifelsohne darstellt, nicht im Mindesten, er ist so eingerichtet, dass sie allen nachkommen kann. Das hat auch mit Macht zu tun, Macht, die einige wenige haben und die von den vielen als zu dem reibungslosen Ablaufen dazugehörig hingenommen wird. Ob die Macht nun auf demokratischer Legitimation beruht, etwa wenn die Stadtverwaltung entscheidet, dass ein Platz einer Durchgangsstraße weichen muss, oder ob sich die Legitimation auf die Sachzwänge des Marktes beruft, ist zweitrangig. Zeitweise regt sich bei den weniger Mächtigen ein Bewusstsein dafür, dass die Stadt prinzipiell allen Bürgern gehört, dass sie ihrer aller Lebensraum ist und von ihnen gemeinsam gestaltet werden kann.
Die Freerunner fühlen das Stadtbewusstsein als Gestaltungsfreiheit und leben es physisch aus. Die »Urbanauten« dagegen gehen intellektuell an die Sache heran. Ihr Ziel ist »ein grundlegender, stadtübergreifender Diskurs über die Gestaltung und Funktion der öffentlichen Räume. Ein Diskurs, der die vielen einzelnen Phänomene in einen größeren Zusammenhang stellt, um eine neue Perspektive auf sie zu gewinnen.« Der öffentliche Raum, den sie gleichsam »neu erfinden« wollen, ist München, die Isarmetropole, in der sie alle leben. »Sie alle«, das ist ein Dutzend junger Leute, die meisten Anfang oder Mitte 30, Akademiker und Akademikerinnen, der Großteil hat Sozialgeografie studiert, andere Kunstwissenschaft, Architektur, Kulturwissenschaft oder Germanistik. Die Phänomene, um die es ihnen geht, sind vielgestaltig: Nutzung und Umnutzung öffentlicher Räume, Stadtgestaltung, öffentliche Kunst, Wohnentwicklung, lokale Identität, Wachstumsprozesse, Nachhaltigkeit und so weiter. 134 Unterm Strich aber ist es ihr Ziel, den Stadtraum wieder als Raum für Bürger zugänglich zu machen.
Begonnen haben sie damit, ihre Ideen unter sich zu diskutieren, schon bald aber suchten sie den Kontakt zur Öffentlichkeit. Sie ersannen dazu Aktionen, die zunächst einmal Aufmerksamkeit erregen, dann die Leute zum Stutzen bringen und schließlich von ihren Tagesgeschäften kurzfristig abbringen sollen. Wer stehen bleibt und schaut, unterhält sich vielleicht auch mit den Nebenleuten darüber, warum er sich gerade wundert. Schon entsteht kommunikative Öffentlichkeit, ein Raum, in dem Menschen miteinander in Kontakt kommen.
Das Konzept ging auf. Aktionen wie der »Kulturstrand« oder der »Corso Leopold« waren Erfolge und finden inzwischen sogar zum Teil regelmäßig statt. Eines der frühen Events war der »Stadtbalkon Hackerbrücke« im August 2005. Die Hackerbrücke spannt sich einen halben Kilometer vom Hauptbahnhof entfernt über die Bahngleise und wird von Autos und Fußgängern benutzt. Zwischen den stählernen Bögen hält sich kaum jemand länger als nötig auf. »Die beeindruckende Sicht auf die von der abendlichen Sonne beschienenen Dächer und Türme Münchens wird von den gehetzten Münchnern kaum wahrgenommen«, schreiben die Urbanauten auf ihrer Homepage. Das ändert sich an jenem 9. August schlagartig.
»Ca. 100 balkonbegeisterte Picknicker ausgestattet mit Essen, Trinken, Geranien, Sonnenschirmen und Sitzkissen verabreden sich kurz vor 18.17 auf der Hackerbrücke. Plötzlich geht die horizontale Bewegung der Menschen auf der Brücke über in die Vertikale und kommt zur Ruhe! Leute klettern an der Stahlkonstruktion der Brücke ein Stück hoch, machen es sich weiter oben gemütlich, immer mehr folgen. Nach ein paar Minuten sind auch Anzugträger mit schicken Sonnenbrillen
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