Einfach ein gutes Leben
wieder, setzt mit einem Bocksprung über einen Verteilerkasten, läuft, flankt über ein Geländer, nein, hält sich fest im Sprung, der Körper schwingt herum wie der eines Reckturners, die Hände greifen ein anderes Geländer, der Mann ist erneut auf den Beinen, noch bevor man versteht, was passiert, springt affenhaft über den nächsten Abgrund, seine Fingerspitzen klammern sich gerade noch an der Kante der Ziegelwand fest, die Fußspitze findet eine Ritze, dann ist er oben, spaziert zwei Schritte auf der schmalen Mauerkrone entlang. Mit einem Salto verschwindet er auf der anderen Seite.
Eine Geistererscheinung trüge sicher keine neuen Laufschuhe, der junge Mann ist echt. Dennoch wirkt seine Mischung aus Boden- und Geräteturnen, Breakdance und Fassadenklettern seltsam fehl am Platz mitten in der Innenstadt. Vielleicht wird sie das aber nicht mehr lange tun. Freerun findet immer mehr Freunde. Und die Stadt ist für die jugendlichen Freerunner kein zufällig gewählter Ort. Sie brauchen die Stadt, ihre Architektur, ihre Mauern, Wände, Treppen, Bänke, Handläufe, Maste. Die Stadt ist ihr Lebensumfeld und die Quelle ihrer Lebensäußerungen. In der Stadt entstand Freerun überhaupt erst.
Zuerst in den Pariser Banlieues: Ende der 80er-Jahre entwickelten die Pioniere wie David Bell und Sébastien Foucan einen neuen Bewegungsstil, der bestehende Sportarten zu einer überraschenden Melange verschmolz: klassischen Hindernislauf, asiatische Kampfkunst, Gymnastik. Sie beriefen sich dabei auf George Hébert und seine »Methode der natürlichen Körperkultur«, in der das Training an Hindernissen eine tragende Rolle einnimmt. So entstand auf den Spielplätzen und Straßen der Pariser Vorstadt »Freerun«, oder »Parkour«, und breitete sich von dort über die Welt aus. 131
Für die zumeist unfreiwilligen Zuschauer mag es wie Sport aussehen, für manche Freerunner auch reine Freizeitbeschäftigung sein – Parkour ist jedoch in erster Linie eine Lebensauffassung, die tiefer reicht als in die Perfektionierung körperlich anspruchsvoller Tätigkeit. Die Bewegung hat sich selbst ein Zeichen gegeben, an dem ihre Mitglieder sich erkennen können, eine Glyphe, die wie ein chinesisches Schriftzeichen aussieht, tatsächlich aber selbst erdacht, designt und mit Bedeutung aufgeladen ist (und sogar als Markensymbol des Netzwerkes Urban Freeflow eingetragen ist). Das komplexe Symbol vereint Bedeutungen wie körperliches Können und Bewusstheit der eigenen Fähigkeiten in sich, steht daneben für Prinzipien wie Gleichgewicht, Gleichheit und Einfachheit. 132 Parkour ist mehr als Sport, es folgt einer Philosophie.
Für den Einzelnen ist Parkour eine Möglichkeit, seine physischen und mentalen Stärken zu finden. Für die Gruppen der »Traceure«, wie sie sich selbst auch nennen, führt diese Stärke zu einem ganz neuen Umgang mit dem öffentlichen Raum. Wo Jugendliche ihn bisher ohnehin stets zweckentfremdet haben, deuten die Freerunner ihn komplett um. Hindernisse werden begangen, ignoriert, genutzt, willkommen geheißen. Wo Passanten Mauern und Gräben sehen, ein Beton gewordenes Regelwerk, dem zwangsweise zu folgen ist, sehen Traceure ihren eigenen Weg.
Sie unterlaufen damit das geplante Raumkonzept der Städte und zeigen den Stadtplanern eine Nase. »Wenn sich die Anhänger von Parkour fließend über , unter oder durch jegliche Art von Hindernis bewegen, gilt ihr Credo dem Erlangen maximaler Freiheit in der geplanten Umgebung. Im Freilaufen der von Architekten und Behörden festgelegten Regeln werden Mauern und Zäune, Kanten und Geländer zu einer Art frei verfügbarem Mobiliar.« 133 Die Stadt und all ihr baulicher Inhalt wird zu reinem Rohmaterial für immer neue Erfindungen von oft halsbrecherischen Bewegungsabläufen. Die ursprünglichen Funktionen der vorgefundenen Bauteile ignorieren die Traceure vollkommen. Was zählt, sind der Fluss der Bewegung, die Herausforderung und das Wachsen daran.
Städte sind – dort wo sie nicht einfach wuchern – auf effizientes Funktionieren hin geplant. Straßen, Ampeln und Begrenzungslinien lassen Fahrzeuge nicht einfach fahren, sie leiten den Verkehr. Zäune, Wände und Mauern demonstrieren Zugangsrechte und setzen sie durch. Personenströme bewegen sich entlang der ausgewiesenen Routen. Mit anderen Worten: Die ganze architektonische Gestalt einer Stadt ist der physische Ausdruck von Regularien, einer Struktur. Diese Vorstellung von Stadt unterminieren die Freerunner. Sie finden ihre
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