Einfach ein gutes Leben
Unterschätzt werden die Wohlfahrtssteigerungen jenseits der ›Marktökonomie‹.«
Viele Tätigkeiten, die in die Gesamtwertschöpfung einfließen und für das gute Leben entscheidend sind, tauchen auf der BIP-Rechnung gar nicht auf. Wer die Welt nur durch die Brille des Bruttoinlandsprodukts sieht, verschafft sich also einen künstlichen Neglect, er sieht nur die Hälfte. »Das betrifft etwa ehrenamtliche Tätigkeiten und Hausarbeit«, sagtDiefenbacher im Interview mit der Wochenzeitung Freitag . Mit anderen Worten: Der informelle Sektor beeinflusst die Höhe des BIP nur wenig. Dadurch, dass er aber über die Hälfte der geleisteten Arbeitsstunden ausmacht, entsteht eine gewaltige Verzerrung. Informelle Tätigkeiten, die direkt zum guten Leben beitragen, werden in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung einfach ignoriert. Diefenbacher resümiert: »Über den tatsächlichen Wohlstand in einer Gesellschaft kann man aus dem BIP also nur bedingt etwas lernen.«
Der Neglect ist aber nicht der einzige Mangel des BIP-Indexes: Das Bruttoinlandsprodukt bewertet Kosten positiv, die ausschließlich durch die Regulierung von Schäden entstehen oder durch Faktoren, die »das Glück« der Menschen vermindern, nicht steigern. »Gesellschaftliche Wohlfahrt kann durch Wirtschaftswachstum teilweise sogar unterminiert werden.« 137 Hergestellt und auf dem Markt angeboten (und damit in die BIP-Summe integriert) werden zum Beispiel auch Filteranlagen für Ruß, Stäube und Schwermetalle, also Geräte, dessen einziger Sinn darin besteht, die Natur nicht dadurch ganz so arg Schaden nehmen zu lassen, dass andere Güter produziert werden. Fällt eine Filteranlage aus, muss jemand kommen, um sie zu reparieren – auch das eine Dienstleistung, die das BIP wieder ein kleines Stück in die Höhe treibt, allerdings ohne dass ein zusätzlicher Nutzen entstünde (die Filteranlage ist nachher immer noch dieselbe); dito die dabei verbrauchten Ersatzteile. Die Arbeit dagegen, die eine 60-jährige Frau leistet, um ihre Mutter zu Hause zu pflegen, wird weder vergütet noch über einen Markt organisiert und taucht deshalb in der BIP-Rechnung erst gar nicht auf. Genauso wenig erscheint dort der Verbrauch an Wasser und Luft, die in der Industrie für Kühlung, Reinigung, Transport oder als Rohstoff eingesetzt werden und den Produktionsprozess teilweise stark verschmutzt wieder verlassen.
Hilfe geben, Loyalität und Zuwendung empfangen und in Würde altern können gehören aber ebenso zur Lebensqualität wie eine unbeeinträchtigte natürliche Lebenswelt und der Schutz vor körperlichem Schaden durch verdreckte Grundstoffe. Das BIP ist nicht in der Lage, dem Rechnung zu tragen. Im Gegenteil: Zieht man vom BIP alle Kosten ab, die dadurch entstehen, dass der Schaden, den unser »Wohlstand« verursacht, abgewehrt oder gemindert wird, bleibt vom suggerierten steten Wachstum nichts mehr übrig. Diese sogenannten »Defensivausgaben« fallen auf die Habenseite des BIP. Wenn etwa hoch verschmutzte Industriebrachen mühsam »renaturiert« werden müssen oder Milliarden in die Heilung berufsstressbedingter Burn-out-Syndrome gesteckt werden müssen, ist das ein Segen für die ökonomische Bilanz. Diese Absurdität und die Tatsache, dass die (real kalkulierten) gesellschaftlichen Kosten für jeden kleinen Zuwachs an Güterreichtum immer weiter steigen, bringen die Kritiker auf die Palme. »Gemessen an der gesamtwirtschaftlichen Rationalität ist die industrielle Wirtschaft unwirtschaftlich geworden«, schreibt der Volkswirtschaftler und Wohlstandsforscher Gerhard Scherhorn und trifft damit die paradoxe Ökonomie mitten ins Herz. Unser »Nettowohlstand« ist in der aktuellen Phase des Kapitalismus mitnichten gestiegen. Das Wachstum des BIP, so schätzt Scherhorn, geht »seit den 70er-Jahren allein auf die Zunahme der Wohlstandskosten« zurück. 138 Unser »Wachstum« ist demnach nichts anderes als eine gigantische Augenwischerei. Der klare Blick auf ein gutes Leben wird uns verstellt durch einen monumentalen Güterberg.
In der Forscher- und Praktikerszene, die sich mit der Entwicklung nachhaltiger Wirtschaftsformen und der Kritik an der Fixierung auf Wachstum befasst, ist die Skepsis am Bruttoinlandsprodukt als Maß aller Dinge besonders groß. Das BIP ist stets mit dem Gedanken stetigen materiellen Wachstums verknüpft gewesen, der die expansive kapitalistische Wirtschaftsform seit jeher auszeichnet. Die Idee funktioniert nicht, wenden die Kritikerinnen ein,
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