Einfach ein gutes Leben
darunter. Die Sommersonne strahlt auf die Szene. Schon zieren rosafarbene Geranien das sonst so graue Geländer der Brücke, Musik der EXPRESS BRASS BAND setzt ein und anderswo ist ein erstes Klingen der Augustinerflaschen zu vernehmen … Bis 21.00 war die Hackerbrücke BALKON UNSERER STADT, ein großes dreidimensionales Sommerpicknick mit Traumblick auf die Züge, den Bahnhof und die Münchner Innenstadt.« 135
Nicht alle Aktivitäten der Urbanauten sind so spektakulär und ziehen so viele Menschen an. Ihr ursprünglicher Debattierklub trifft sich noch immer, hat seinen Wirkungskreis allerdings um Vorträge und Seminare in der Stadt und an derUniversität erweitert. In ihren Fächern und Interessengebieten schreiben die Urbanauten auch nach wie vor Forschungsarbeiten, Artikel und Diskussionspapiere, die sie zum Teil einem breiteren Publikum zugänglich machen. Daneben planen sie ständig neue Veranstaltungen, Experimente und Aktionen. Mittlerweile werden sie dafür von der Stadt mit jährlich 33.000 Euro gefördert – für den Zweck »Kunst im öffentlichen Raum«.
Was sie tun, ist allerdings eher eine Rückführung des Stadtraumes in die bürgerschaftlich geteilte öffentliche Nutzung. Dafür bedienen sie sich freilich unter anderem künstlerischer Mittel, weil sie wissen, dass die gut geeignet sind, um die nachhaltige Aufmerksamkeit der Leute zu erregen, etwa darauf, dass ihnen öffentliche Orte bestimmte Zwänge auferlegen, was sie in der Regel gar nicht bemerken: In Kirchen verhält man sich schweigsam und still, auf Straßen bleibt man nicht stehen. Orte bestimmen unser Verhalten. Benjamin David, Gründer der Urbanauten, erklärt das Phänomen so: »Da gibt es Kontrollsysteme und Normen, und zwar nicht nur in Form von Gesetzen – oft sind es ›gefühlte‹ Regeln.« Die Regeln wollen die Urbanauten sichtbar machen und zeigen, dass jede auch Ausnahmen erlaubt, die eine freie Bürgerin wahrnehmen kann, wenn sie bereit dazu ist. So werden ihre Aktionen zu einer »Schule der Stadtgesellschaft« zum Wohl jedes einzelnen Bürgers. Denn der langfristige Sinn aller Aktivitäten ist für die Urbanauten »nicht Gewinnmaximierung, sondern persönlicher Wohlstand«, sagt David 136 – Wohlstand, der mit der Gestaltung des eigenen Lebensraumes entsteht.
Röntgen mit der Taschenlampe
Benjamin David und seine Mitstreiter erfinden Möglichkeiten, das gute Leben zu mehren. So dürfen wir ihn wohl deuten, wenn er von »persönlichem Wohlstand« spricht. Sie wählen dazu das Mittel der Selbstermächtigung und fordern aktiv (durch körperliche Anwesenheit, ähnlich wie die Traceure) ihre Mitwirkung an öffentlichen Prozessen in ihrem Umfeld,in ihrer Stadt, ein. Sie wollen darüber mitentscheiden, was in München mit öffentlichen Räumen passiert, und dazu nicht den Umweg über die üblichen demokratischen Organe und ihre Vertreter gehen, sondern gleich mit der Raumnutzung beginnen, wie sie sie sich vorstellen.
Ein lebenswertes Umfeld gehört unbedingt zu den Erfüllungschancen eines guten Lebens. Wir müssen zum Beispiel Kontakt zu einer unvernutzten, ungeschädigten Natur haben (wie immer dieser Zustand im Einzelnen aussehen mag). Zu unseren Grundbedürfnissen zählt aber auch eine urbane Umgebung, die wir schätzen können, die uns keinen unnötigen gesundheitlichen Gefahren aussetzt und an deren Gestaltung wir Anteil haben können. Der Zugriff auf städtische Lebensräume darf deshalb nicht allein nach politischen oder wirtschaftlichen Interessen geregelt sein. Oft genug beklagen Bürger jedoch, dass genau das geschieht. Sie fühlen ihr Recht auf eine selbstbestimmte Rolle als gleichwertiger Teil ihrer Stadt eingeschränkt.
Der Eindruck unfairer Behandlung und Übervorteilung ist nicht immer bloß eine Auswirkung der ungleichen Verteilung von Machtpositionen. Selbst bei gutem Willen können Entscheidungsträger nicht fair handeln, wenn die Grundlagen ihrer Entscheidungen, die Rohdaten sozusagen, schon nicht mit der Realität übereinstimmen. Die Messinstrumente, mit denen Markt und Politik die Lage der Welt, einer Volkswirtschaft oder einer Stadtgemeinschaft auf Herz und Nieren prüfen, sind jedoch leider zum Teil hoffnungslos veraltet oder von vornherein ungeeignet gewesen. Dr. Oeconomicus kommt mit einer Taschenlampe zur Röntgendiagnose – und das, obwohl der Kernspintomograf längst erfunden ist.
Vor allem das Grundverständnis von Wohlstand, das jahrzehntelang sowohl die die Wirtschaft betreffenden politischen
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