Einfach ein gutes Leben
oder auch: Sie funktioniert zu gut. Zwar wächst die Menge dessen, was wir auf Märkten verhandeln, in der Tat ständig an, die Kosten für den Zuwachs werden jedoch unterschlagen. In der Ökonomik sagt man euphemistisch: »externalisiert«. Das heißt nichts anderes, als dass Ressourcen, die sich in absehbarer Zeit nicht wieder regenerieren werden, trotzdem verbraucht werden; Naturräume vernutzt werden ohne Rücksicht auf deren Überlebensfähigkeit; Millionen Menschen ihrer Subsistenzgrundlagen beraubt werden; soziale Ungleichheiten vergrößert oder neu geschaffen werden; ein globaler Klimawandel mit unabsehbaren Folgen eingeleitet wird. All diese Kosten tauchen auf dem BIP-Zettel nicht auf, sondern werden an nachkommende Genrationen, die »Dritte Welt«, die Fauna und Flora und so weiter (irgendjemand wird’s schon nehmen) durchgereicht. Externalisierung ist ein weiterer selbst verordneter Neglect – damit das wirtschaftliche Wachstum weitergehen kann.
Sicherlich bringt Wirtschaftswachstum nicht nur den wenigen einen Nutzen, die daraus finanzielle und Machtvorteile schlagen. Es kann kurzfristige positive Effekte auf den Arbeitsmarkt haben und Jobs schaffen. Langfristig schafft es verbesserte materielle Lebensbedingungen: Viel mehr Menschen als noch vor 50 Jahren haben heute Kühlschränke und Autos, können ihre Kinder zur Schule oder zur Universität schicken. Der Preis ist allerdings hoch, wenngleich größtenteils externalisiert und damit unsichtbar. Eine reale Schätzung der Kosten würde vielleicht an den Tag bringen, dass sie unseren messbaren Wohlstand und unsere subjektive Zufriedenheit stärker mindern, als die materiellen Vorteile sie vergrößern. Doch nicht nur die Kosten bringen die Wachstumsvorzüge unterm Strich zurück auf null. Die US-Ökonomin Juliet Schor argumentiert in ihrem neuen Buch Plenitude – The new economics of true wealth , dass weder Vollbeschäftigung noch ein guter Lebensstandard ein als BIP messbares Wachstum benötigen: Die Produktivität, also die Effizienz, mit der produziert wird, mache den Unterschied. Im Verbund mit einer gerechten Wohlstandsverteilung und einer selbstbestimmten Nutzung des neuen Zeitwohlstandes könne mit weniger Arbeitsstunden und null Güterwachstum ein Anstieg der allgemeinen Wohlfahrt erzeugt werden. 139 Schors Vorstellung kommt den Lebensmodellen der Menschen, über die ich hier erzähle, sehr nahe. Alternative Kleinökonomien wollen mit globalem Wirtschaftswachstum in der Regel wenig zu tun haben.
Summa summarum sollten wir also nicht über das BIP sprechen, wenn wir über das gute Leben reden wollen. Das dämmert mittlerweile auch den politischen Entscheidungsträgern auf den höchsten Ebenen. Im November 2007 richtete das EU-Parlament die Konferenz »Beyond GDP« 140 aus, an der sich neben Parlament und Kommission auch die Vereinten Nationen, die OECD, der WWF, die Weltbank und der Club of Rome beteiligten. Im selben Jahr organisierte die OECD mit dem zweiten Weltforum unter dem Thema »Measuring and fostering the progress of society« eine eigene Veranstaltung zur Verständigung über neue Ansätze zur Messung der gesellschaftlichen Wohlfahrt. Die EU-Kommission wiederum empfiehlt seit Kurzem eine Ergänzung der Datengrundlage und Messziele des BIP. Sie stellt fest, die zukünftigen Aufgaben der Europäischen Union erforderten »umfassendere Indikatoren als den Anstieg des BIP, also Indikatoren, die präzise soziale und ökologische Fortschritte (wie sozialer Zusammenhalt, Verfügbarkeit und Erschwinglichkeit grundlegender Güter und Dienstleistungen, Bildung, öffentliche Gesundheit und Luftqualität) und Fehlentwicklungen (wie wachsende Armut, Anstieg der Kriminalität oder Erschöpfung natürlicher Ressourcen) einbeziehen«. Die EU-Kommission beruft sich dabei auf den sogenannten »Stiglitz-Report«, der 2008 von der französischen Regierung in Auftrag gegeben wurde. Die »Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress«, die ihn ausgearbeitet hat, war hochkarätig besetzt, unter anderem mit den Nobelpreisträgern Joseph Stiglitz und Amartya Sen. Ihr Abschlussbericht stellt eingangs fest, dass die öffentliche Wahrnehmung der wirtschaftlichen Entwicklung und deren offizielle Messungen oftmals weit auseinanderfallen. Die Lücke sei auch mit psychologischen Effekten nicht zu erklären. Zu oft griffen die politischen Gremien mithin auf Instrumente zurück, die »kein verlässlicher Kompass« mehr sind. Die
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