Einfach ein gutes Leben
ist nicht der Zwang, der den schönen Seiten des Daseins – dem »eigentlichen Leben« – unvermeidbar vorausgeht.
Diese privaten Motive stehen allerdings nicht allein, sondern werden ergänzt durch solidarische Motive für Selbstorganisation. Selbstversorger und Eigenarbeiter betonen immer wieder die essenzielle Rolle der Gemeinschaften, innerhalb derer sie arbeiten. Der Gedanke der Solidarität spielt in den Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaften, den Ökonomienauf Gegenseitigkeit oder den selbst verwalteten Betrieben ohnehin die erste Geige. Man weiß dort eben, dass man seine Ziele teilt und dass sie überhaupt nur in der Gemeinschaft zu erreichen sind. Aber auch altruistische Beweggründe finden sich, im Helfenwollen oder dem Wunsch, andere zu unterstützen.
Michael Hartl haben zwei Fragen zu seinem Selbstversorgungsexperiment geführt: »Wie kann mein Lebensstil nachhaltiger werden? Wie kann ich in größerem Einklang mit der Natur leben?« Es sind Fragen nach seiner Verantwortung für das größere Ganze. Dieser Gedanke findet sich bei den Akteuren der Selbstorganisation immer wieder: Sei es als Verantwortungsbewusstsein für die Natur, für kommende Generationen oder die aktuellen Lebensgemeinschaften (Familien, Nachbarschaften), sei es als politisches Motiv, etwa wenn die Urbanauten oder »Recht auf Stadt« die bürgerschaftliche Mitbestimmung und das Gestaltungsrecht für den städtischen Lebensraum durch gemeinsame Aktionen wachrufen.
Oft haben die Akteure in diesem Buch ihre Absicht geäußert, sich außerhalb der ökonomischen Verwertungslogik stellen zu wollen. Da gibt es die, die unabhängig von Geld und Verdienst sein wollen, die aber schon wissen, dass ihr Vorhaben in einer Gesellschaft, in der so vieles am Geld hängt, sehr schwer zu 100 Prozent durchzusetzen sein wird. Da gibt es diejenigen, die sich »unabhängig von kapitalistischer Produktion« machen wollen, die Güter des alltäglichen Bedarfs lieber in die eigene Herstellung nehmen oder von kleinen Produzenten geldlos erwerben. An ihnen wird besonders deutlich, wie wichtig das aktive Tun für die Selbstorganisation ist. Sich abzusetzen vom passiven Konsum und dem Hinnehmen dessen, was an Gütern anonym bereitgestellt wird, ist ein starkes Motiv. Die Selbstorganisierer nutzen die Chancen, sich mit ihren Fähigkeiten und ihrer Begeisterung für die Sache einzubringen.
Dann gibt es diejenigen, die zwar nach wie vor von ihrem Geldeinkommen leben, Güter und Dienste jedoch radikal umgewertet haben, indem sie zum Beispiel – wie die Mitglieder von Otium – frei verfügbare Zeit höher schätzen als das Einkommen, das sie in der gleichen Zeit hätten verdienen können. Bisweilen wird wirtschaftlicher Wert schlechthin kleingeschrieben, etwa wenn Niels Boeing beschreibt, wie städtischer Raum seiner Auffassung nach zu gestalten ist: »Wir wollen eher die Vielheit erhalten. Wir sagen nicht: ›Diese und jene Bar passt nicht in unser Viertel‹, sondern: ›Das hat alles seinen Platz, solange es nicht zulasten geht von Leuten, die sich bestimmte Sachen nicht leisten können.‹ Das meine ich mit ›nicht immer auf die Wirtschaftlichkeit schauen‹.« Vom Renditedenken absehen kann auch heißen, bisher zu wenig gewürdigte Arbeiten in Wert zu bringen, indem sie mit denjenigen Arbeiten gleichgesetzt werden, die herkömmlicherweise das Erwerbseinkommen sichern. Das betrifft beispielsweise die Hausarbeit, Pflegearbeit, Erziehungsarbeit, die Nachbarschaftshilfe, generell also viele Formen der Subsistenzproduktion.
Sehr oft ist der Wunsch nach mehr Selbstbestimmung das Scharnier, um das sich alle anderen Motive drehen. Bei den Guerilla-Gärtnern oder »Recht auf Stadt« ist es das Selbstbestimmungsrecht als Bürger, gemeinsam mit allen anderen Anwohnern über die Nutzung des eigenen Stadtviertels zu entscheiden, das in aktiven Protesten gegen den Zugriff von Entscheidungsträgern und Kapitaleignern verteidigt wird. Otium, die Arbeitssammler oder die Selbstversorger dagegen wünschen sich mehr individuelle Selbstbestimmung, entweder weil sie Fremdbestimmung an sich ablehnen oder weil sie sehen, dass sie für ein gutes Leben nach ihren Vorstellungen gravierende Nachteile bringt. Das alte Genossenschaftsmotto drückt es im Pathos des 19. Jahrhunderts aus: »Keine Herren über sich, keine Sklaven unter sich.« Die Selbstorganisierer müssen dabei jedoch eine für sie jeweils geeignete Balance zwischen Fremdbestimmung und Freiheit finden. Jeder hat seine
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