Einfach Freunde
fehlte eben die Gebrauchsanweisung. Sie hielten es für ein Zeichen von Liebe, wenn Eltern ihren Kindern alles durchgehen lassen. Ihnen war nicht klar, dass man Kindern manchmal etwas verbieten muss, und zwar zu ihrem Besten. Die gesellschaftlichen Benimmregeln waren ihnen praktisch unbekannt, die Höflichkeitsfloskeln und Tischmanieren, die vor allem in den besseren Kreisen so wichtig sind. Wie sollten sie mir also diese Regeln vermitteln oder von mir verlangen, dass ich sie einhalte?
Abends kehrte ich oft mit Strafarbeiten zurück. Meine Mutter sah mich Dutzende, Hunderte Male Sätze abschreiben wie: Ich darf im Unterricht nicht schwatzen oder meinen Platz verlassen. Ich darf meine Mitschüler nicht auf dem Pausenhof verprügeln. Ich darf nicht mit dem Metalllineal nach meiner Lehrerin werfen. Ich räumte mir ein Eckchen vom Küchentisch frei, breitete die Blätter aus und begann den Schreibmarathon. Mama bereitete inzwischen das Abendessen zu, ab und an wischte sie sich die Finger an der Schürze ab, trat hinter mich, legte mir eine Hand auf die Schulter und betrachtete die immer gröÃer werdende Zahl von Hieroglyphen.
»Du bist aber fleiÃig, Abdel. Sehr gut!«
Französisch konnte sie kaum lesen.
Deswegen las sie auch die Beurteilungen nicht, die unten auf dem Zeugnis standen. »Ein Störenfried, der Junge hat nichts im Sinn als Raufereien«, »Lässt sich nur sporadisch im Unterricht blicken«, »Steht auf Kriegsfuà mit dem Schulsystem«.
Auch die Vorladungen, die Lehrer, Schulleiter und später der Gymnasiumsdirektor schickten, las sie nicht. Ihnen allen erklärte ich:
»Meine Eltern arbeiten, sie haben keine Zeit.«
Ich fälschte die Unterschrift meines Vaters â¦
Noch heute bin ich davon überzeugt, dass nur Eltern, die selbst im französischen Schulsystem groà geworden sind, zu Elternabenden, Lehrersprechstunden und anderen Pflichtterminen antanzen. Man muss wissen, wie das System funktioniert, und sich anpassen, um in ihm seine Rolle zu erfüllen. Vor allem muss man es wollen. Wie konnte Amina etwas wollen, das ihr völlig fremd war? Für sie waren die Aufgaben klar verteilt: Ihr Mann ging arbeiten und brachte das Geld nach Hause. Sie putzte, kochte und machte die Wäsche. Die Schule übernahm unsere Erziehung. Dass ich ein Rebell war und keine Vorschriften ertrug, lieà Amina dabei auÃen vor. Sie kannte mich nicht.
Niemand kannte mich wirklich, mal abgesehen vielleicht von meinem Bruder, der aber vor allem Angst hatte. Manchmal spannte ich ihn für kleinere Aktionen ein, die keinen Mut erforderten, wir sprachen kaum miteinander. Als er 1986 ausgewiesen wurde, kratzte mich das nicht. Ich hatte höchstens Verachtung für ihn übrig: Er hatte sich aus dem einzigen Land werfen lassen, in dem er einigermaÃen heimisch war, und das nur wegen dem bisschen Papierkram. Schön blöd ⦠Ich hing mit den Kumpels von der Cité ab. Ich nenn sie Kumpels, weil wir nicht befreundet waren. Wozu denn einen Freund? Um ihm sein Herz auszuschütten? Das hatte ich nicht nötig, weil mich rein gar nichts berührte. Ich brauchte niemanden.
Zu Hause öffnete ich die Briefe aus Algerien nicht, ich interessierte mich nicht für die Absender, sie waren nicht mehr Teil meiner Welt. Ich hatte sogar vergessen, wie sie aussahen. Sie kamen nie nach Frankreich, und wir fuhren nie zu ihnen. Meine Eltern Belkacem und Amina waren zwar einfache Leute, aber sie waren nicht dumm. Sie hatten begriffen, dass man in Paris besser leben konnte als in Algier, sie hatten kein Heimweh. Nie haben sie Matratzen auf das Dach ihres Kombis geladen, um im Sommer mit dem Rest der Herde Richtung Süden zu wandern. Auf der anderen Seite des Mittelmeers hatte ich drei Schwestern und einen Bruder. Für mich existierten die genauso wenig wie ich für sie. Wir waren uns fremd. Ich war der ganzen Welt fremd. Frei wie ein Vogel, unbeherrschbar und unbeherrscht.
11
Gar nicht so übel, die Sache mit der Jugendrichterin. Weil ich keine Ausbildungsförderung mehr bekomme, gewährt sie mir eine kleine Beihilfe. Genug, um mir ein Kebab mit Pommes und Fahrscheine zu kaufen. Alle drei Wochen schau ich in ihrem Büro vorbei, und sie überreicht mir den Umschlag.
Wenn ich mit Turnschuhen antanze, die an meinen ständig wachsenden FüÃen zu klein aussehen, steckt sie mir ein paar Scheinchen mehr zu. Was sie nicht kapiert:
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