Einfach Freunde
stiegen wir in irgendeinen Waggon und schliefen ein paar Stunden. Ab und zu blinzelte ich und sah Typen im billigen Anzug und mit Krawatte vor mir, das Aktentäschchen auf den Knien, ihnen fehlten nur die Handschellen, um sich daran zu ketten. Unsere Blicke trafen sich, und es war schwer zu sagen, wer den anderen mehr verachtete. Insgeheim dachte ich Geh schön schuften, ja, steh jeden Morgen mit den Hühnern auf, um dir deinen Hungerlohn zu verdienen. Für mich ist die Nacht noch nicht zu Ende.
Ich döste wieder ein, die Nähte der Sitze hinterlieÃen Streifen auf meiner Wange, ich duftete sicher nicht nach Rosen, aber wo duftet es in Paris schon nach Rosen. Aus dem Lautsprecher ertönte eine Stimme:
»Saint-Rémy-lès-Chevreuse, Endstation. Bitte alle aussteigen.«
In meinem Ohr ertönte eine Stimme.
»Abdel, wach auf, verdammt, wach endlich auf! Wir müssen hier raus. Der Zug fährt jetzt ins Depot!«
»Lass mich schlafen â¦Â«
Eine andere, schärfere Stimme, deren Besitzer an meinem Arm rüttelte:
»Ausweiskontrolle. Zeig deine Papiere her!«
Ich setzte mich schlieÃlich auf, gähnte herzhaft und wollte gerade einen Blick auf meine Uhr werfen, als mir dämmerte, dass das keine gute Idee war. Der Hungerleider in Uniform hätte bestimmt erraten, dass ich sie nicht zur Kommunion geschenkt bekommen hatte.
»Zum Kaffee hätte ich gern noch ein kleines Croissant â¦Â«
»Schön, dass du schon beim Aufwachen Humor beweist!«
Entspannt reichte ich ihm meine Papiere, die natürlich in Ordnung waren. Als gebürtiger Algerier besaà ich eine Aufenthaltsgenehmigung, die erst vor kurzem verlängert worden war. AuÃerdem lief bereits mein Einbürgerungsverfahren: In den achtziger Jahren konnte jeder, der länger als zehn Jahre in Frankreich lebte, den blau-weiÃ-roten Pass bekommen. Da hab ich nicht lange gefackelt. Im Gegensatz zu meinem Bruder, diesem Idioten, der nicht aufgepasst hatte und 1986 nach Algerien zurückgeschickt worden war. Belkacem und Amina verloren einen Sohn, vermutlich denjenigen, den sie lieber behalten hätten. Den anderen würden sie bald auf der Wache abholen müssen.
»Sellou, die Kripo will dich befragen, wir nehmen dich mit.«
»Kripo? Was ist das?«
»Tu nicht so. Kriminalpolizei, das weiÃt du ganz genau.«
Ich wusste sofort, dass es sich um den Mord vom Châtelet handelte. Der einzige Vorfall, der schwer genug war, um mir eine Audienz auf der Ãle de la Cité zu bescheren. Ich wusste aber auch, dass man mir nichts anhaben konnte: Ich war bloà Zeuge gewesen und konnte den Mörder noch nicht mal identifizieren. Ausnahmsweise würde ich nicht lügen müssen. Tricksen war nicht nötig: Mir wurde nichts vorgeworfen, ich konnte die Wahrheit sagen, nichts als die Wahrheit. Es hatte eine Rangelei gegeben, eine Messerstecherei, der Typ war zu Boden gegangen, Ende.
Und Anfang meiner Gerichtslaufbahn.
9
Ich bin gerade sechzehn geworden. Vor ein paar Tagen habe ich mich vor dem Disziplinarausschuss des Gymnasiums eingefunden, um meine Karriere als Mechaniker zu beenden. Ich wurde beschuldigt, dem Unterricht wiederholt ferngeblieben zu sein und auÃerdem dem BWL -Lehrer einen Kinnhaken verpasst zu haben.
»Abdel Yamine Sellou, am 23 . April haben Sie Monsieur Péruchon tätlich angegriffen. Bekennen Sie sich dazu?«
Mensch, das ist ja ein richtiger Prozess â¦
»Klar â¦Â«
»Immerhin etwas! Versprechen Sie uns, dass es nie wieder dazu kommt?«
»Tja, das liegt ganz bei ihm!«
»Nein, das liegt allein bei Ihnen. Geloben Sie also, es nie wieder zu tun?«
»Nein, das kann ich nicht.«
Der Chefankläger seufzt resigniert. Die Geschworenen lösen weiter Kreuzworträtsel. Meine Dreistigkeit ist nichts Neues für sie. Nach allem, was sie schon erlebt haben, wird es schwer, sie aus der Reserve zu locken. Ich versuche es also mit Humor.
»Sie wollen mich hoffentlich nicht rausschmeiÃen, Herr Direktor?«
»Liegt Ihnen plötzlich doch etwas an Ihrer beruflichen Zukunft, Abdel Yamine?«
»Na ja ⦠Mir liegt vor allem was an der Mensa. Am Donnerstag gibtâs oft Pommes. Da komm ich gern zum Essen.«
Die anderen im Saal rühren sich immer noch nicht. Nicht mal der fette Schulbeauftragte für Disziplinarfragen, der mir übrigens kein einziges Mal mit Rat und Tat zur Seite gestanden
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