Einfach Freunde
Eltern sagen nichts. Sie verstehen nicht, worum es geht, aber sie wissen bereits, dass man ihnen den Sohn nicht wegnehmen wird. Dass ich nicht in ein Heim für jugendliche Straftäter komme. Sie wissen, dass ich von nun an alle drei Wochen im Justizpalast erscheinen muss und sich trotzdem nichts ändern wird, weder für sie noch für mich. Youssouf, Mohamed, Yacine, Ryan, Nassim, Mouloud â fast alle Jungs von Beaugrenelle stehen unter Aufsicht von Jugendrichtern. So geht es in der Cité nun mal zu. Meine Eltern denken bestimmt, dass es für alle gilt, für Einwanderer- und Franzosenkinder.
Die Richterin begibt sich sogar persönlich zu uns ins Vernehmungszimmer. Sie ist eine kleine, rundliche Frau mit sanfter Stimme und einer sehr mütterlichen Art. Zwar spricht sie mit mir wie mit einem Zehnjährigen, aber ohne mich für blöd zu verkaufen. Offenbar will sie mir wirklich helfen ⦠Sie sagt, was los ist, ohne tonnenweise Pathos aufzutragen. Das erlebe ich zum ersten Mal â¦
»Du gehst wohl nicht so gern in die Schule, Abdel Yamine?«
»Nein.«
»Das kann ich verstehen, du bist nicht der Einzige, dem es so geht. Aber du bist gern nachts unterwegs? Ich habe gehört, dass du etwas Schreckliches gesehen hast, beim Forum des Halles, dort wurde vor deinen Augen jemand ermordet, nicht wahr?«
»Hmm.«
»Meinst du, das tut einem so jungen Mann gut, in solche Situationen zu geraten? Du bist schlieÃlich erst sechzehn.«
Ich zucke mit den Schultern.
»In drei Wochen sehen wir uns wieder, Abdel Yamine. Bis dahin kannst du dir in Ruhe überlegen, was du gern tun würdest. Vielleicht auch, wo du gern leben möchtest. Dann können wir uns darüber unterhalten und sehen, was sich machen lässt. Einverstanden?«
»Ja.«
Zu meinen Eltern sagt sie:
»Madame Sellou, Monsieur Sellou, ich darf Sie daran erinnern, dass Sie für diesen Jungen die Verantwortung tragen, und zwar bis zu seiner Volljährigkeit, die in Frankreich mit 18 Jahren erreicht ist. Bis dahin müssen Sie ihn beschützen, auch gegen seinen Willen. Ein Kind bedeutet keine Last, sondern eine Aufgabe, die Eltern zu erfüllen haben. Können Sie mir folgen?«
»Ja, Madame.«
Diesmal haben sie wirklich etwas begriffen. Nicht alles, aber immerhin etwas. Nachdem mein Vater drei Stunden bei der Kriminalpolizei verbracht hat, mit krummem Rücken und traurigem Blick, wagt er es auf der StraÃe, seinem Frust freien Lauf zu lassen.
»Hast du gehört, Abdel? Die Dame sagt, wir sind für dich verantwortlich, also wirst du dich von jetzt an benehmen!«
Gehört habe ich vor allem das Wort »Last«. Ich betrachte diesen armen Mann, der seit dreiÃig Jahren Kabel anschlieÃt, gemeinsam überqueren wir die Seine, am Pont Neuf, der mich schon jetzt an so viel erinnert, und mir kommt mein Leben deutlich aufregender vor als seins. Plötzlich sieht mich meine Mutter an, ihre Augen sind voller Tränen.
»Abdel, du hast einen Mord miterlebt!«
»War nicht schlimm, Mama. Als hätte ich mir einen Unfall oder einen Film im Fernsehen angeschaut. Ich war zwar dabei, aber ich war nicht betroffen, es hatte nichts mit mir zu tun. Es hat mir nichts ausgemacht.«
Genau wie all die Standpauken, die ich mir anhören musste.
II
ENDE DER UNSCHULD
10
Ich nutzte die Schwäche meiner Eltern aus und fand nichts dabei. Mit sechs, spätestens sieben hatte ich meine Kindheit und die Segelschiffchen in den Tuilerien hinter mir gelassen, um so frei und unabhängig wie möglich zu leben. Ich beobachtete die menschlichen Gattung und stellte fest, dass dort die gleichen Zustände herrschen wie im Tierreich: Auf einen Herrschenden kommen stets mehrere Beherrschte. Und so dachte ich, mit einem bisschen Ãberlebensinstinkt und Intelligenz findet man bestimmt sein Plätzchen.
Mir war nicht bewusst, dass Belkacem und Amina auf ihre Weise über mich wachten. Immerhin hatten sie die Elternrolle übernommen, ohne dafür richtig gerüstet zu sein, und ich hatte sie als Eltern angenommen. Ich nannte sie ja auch Papa und Mama.
»Kauf mir ein neues Comic-Heft, Papa.«
»Gib mir das Salz, Mama.«
Wenn ich was wollte, bat ich meine Eltern nicht darum, sondern erteilte ihnen Befehle. Ich wusste nicht, dass die Dinge sich normalerweise anders abspielen. Sie wussten es auch nicht, sonst hätten sie mich entsprechend erzogen. Ihnen
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