Einfach Freunde
ein neuer Abdel hätte werden wollen, hätte ich bestimmt jemanden gefunden, der mir dabei hilft. Ich hätte nur zu fragen brauchen. Belkacem und Amina hatten sich nicht von mir abgewandt. Als sie mich kurz vor meiner Entlassung im Gefängnis besuchten, redeten sie mir ins Gewissen, sie verhielten sich, wie verantwortungsbewusste Eltern sich verhalten sollten, wenn ihr Kind auf die schiefe Bahn geraten ist. Mir ging das zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus ⦠Ich hatte immer noch nichts dazugelernt.
Meine Helden meisterten jede Situation. Der Terminator fing sich zwar Schläge ein, aber er blieb auf den Beinen. Niemand konnte Rambo besiegen. James Bond wich den Kugeln aus, und Charles Bronson zuckte kaum mit der Wimper, wenn er getroffen wurde. Aber ich identifizierte mich gar nicht so sehr mit ihnen, denn für mich war das Leben eher eine Art Zeichentrickfilm. Wer vom Felsen stürzt, landet platt wie ein Pfannkuchen auf dem Boden und rappelt sich einen Moment später wieder auf. Es gibt keinen Tod. Es gibt keinen Schmerz. Schlimmstenfalls wächst einem eine Beule aus der Stirn, und man sieht lauter Sternchen um seinen Kopf kreisen. Doch dann ist man gleich wieder fit und macht dieselben Fehler einfach noch einmal.
Das trifft auch auf mich zu. Ich habe meinen alten Posten am Trocadéro bezogen, nicht bemerkt, dass die Bullen mich im Auge behielten â und sie auch dieses Mal nicht kommen sehen. Das Gleiche wieder von vorn? Von mir aus.
17
Frankreich ist ein wunderbares Land. Es hätte mich als einen völlig hoffnungslosen Fall aufgeben und gleichgültig zusehen können, wie ich mich immer tiefer in kriminelle Machenschaften verstricke. Stattdessen hat es mir eine zweite Chance gegeben, damit ich ein anständiger Mensch werde. Ich habe die Chance genutzt, zumindest nach auÃen hin. Frankreich ist ein verlogenes Land. Es lässt alle möglichen Gaunereien, Betrügereien, Mauscheleien zu, solange man diskret vorgeht. Frankreich ist ein Land, das sich zum Komplizen seiner abgezocktesten Bürger macht. Das habe ich schamlos ausgenutzt.
Ein paar Monate vor Ablauf meiner Haftstrafe hat ein Sozialpädagoge meinen Fall übernommen. Er kam mich besuchen, war sehr freundlich und wollte mir zeigen, dass es eine Alternative zu Diebstahl und Körperverletzung gibt: einen Beruf! Das Justizsystem und seine Sonderbotschafter wollten also erreichen, was dem Schulsystem nicht gelungen war.
»Wir besorgen Ihnen einen Ausbildungsplatz, Monsieur Sellou. Im nächsten Monat werden Sie von Fleury-Mérogis in den offenen Vollzug nach Corbeil-Essonnes verlegt. Sie sind dann verpflichtet, sich jeden Morgen an Ihren Arbeitsplatz zu begeben und abends zum Schlafen in die Anstalt zurückzukehren. Das Wochenende dürfen Sie bei Ihrer Familie verbringen. Wir werden regelmäÃig überprüfen, welche Fortschritte Sie im Verlauf der Ausbildung machen, und auf dieser Grundlage entscheiden, wie es mit Ihnen weitergeht.«
Amen. Ich konnte ja so tun, als würde mich dieser Vorschlag genauso begeistern wie den Sozialpädagogen. In Wahrheit dachte ich keine Sekunde daran, ihn brav in die Tat umzusetzen. Wie naiv musste man sein, um zu glauben, dass ein Junge, der noch nie gehorcht hatte, weder seinen Eltern noch seinen Lehrern, noch den Bullen, plötzlich bekehrt wird? Und überhaupt: Welche Argumente hatte er, um mich zu überzeugen? Keine! Wobei dieser Softi in Anzug und Krawatte gut beraten war, nicht allzu viele Worte zu verlieren ⦠Ich hatte seiner kleinen Rede aufmerksam zugehört und mir nur die Freiheiten gemerkt, die mir versprochen wurden, nicht die Pflichten. Vor allem hatte ich mir gemerkt, dass ich am Wochenende pennen konnte, wo ich wollte. Also würde ich Corbeil-Essonnes jeden Freitagmorgen verlassen und mich erst Montagabend wieder dort einfinden. Vier Tage in freier Wildbahn ⦠Ich hab sofort unterschrieben.
Drei Wochen nach Beginn meiner Schnupperlehre â als Elektriker, wie Papa! â werde ich vom Sozialpädagogen vorgeladen.
»Gibt es Probleme an Ihrem Ausbildungsplatz, Monsieur Sellou?«
»Ãh, nein ⦠Warum?«
»Wie ich höre, sind Sie die letzten vier Tage dort nicht erschienen.«
Jetzt kapiere ich. Ich war kein einziges Mal dort, um mir zeigen zu lassen, wie man mit Kabel, Schalter und Unterbrecher umgeht. Ich hatte einen Kumpel hingeschickt, sozusagen als Vertretung. Dieselbe
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