Einfach Freunde
schlafe wieder ein.
Ich mache Fehler, bin ungeschickt und aufbrausend, meine Hände schlagen gerne zu, und aus meinem Mund kommen manchmal böse Worte. Monsieur Pozzo zieht um in eine Wohnung im obersten Stock eines Neubaus â selbstverständlich den höchsten Standards entsprechend â im selben Viertel. Eine komplette Seite ist verglast, es ist die Südseite und die Wohnung damit ein einziger Brutkasten. Sogar für ihn ist es zu heiÃ. Der Fahrstuhl ist breit genug für seinen Rollstuhl und für mich. Aber wenn ein Auto vor der Tür, auf dem sehr engen Bürgersteig parkt, können wir das Haus nicht verlassen.
Eines Morgens zur Frühstückszeit sind wir eingeschlossen. Der Besitzer des Wagens steht daneben, diskutiert mit einem Typen am StraÃenrand. Ich sage ihm, er soll Platz machen. Und zwar sofort.
»Nur eine Minute noch.«
Die Minute verstreicht.
»Sie verschwinden jetzt mit Ihrer Karre.«
»Eine Minute, hab ich gesagt.«
Er ist fast eins neunzig groÃ, wiegt schätzungsweise hundert Kilo, ich reiche ihm gerade mal bis zur Schulter. Ich schlage mit der Faust auf die Kühlerhaube. Eine Delle entsteht, genau auf der Höhe des Kühlers. Er beginnt mich zu beschimpfen. Ich werde sauer.
Einige Minuten später hält mir Monsieur Pozzo eine seiner typischen Mini-Moralpredigten.
»Abdel, das hättest du nicht tun sollen â¦Â«
Es stimmt, denn ich finde mich bald vor dem Richter wieder. Der Typ hat Klage eingereicht wegen Körperverletzung, hat sogar eine ärztliche Bescheinigung vorgelegt, die ihm acht Tage Arbeitsunfähigkeit bescheinigt. Ich habe nicht viel Mühe, den Richter zu überzeugen, dass ein kleiner Bursche wie ich, die Hilfskraft eines Tetraplegikers, einem solchen Koloss überhaupt keine Tracht Prügel verpassen kann. Freispruch. Wer ist der Beste?
Vielleicht doch nicht ich. Es kommt vor, dass mir Monsieur Pozzo aus der Hand rutscht, wenn ich ihn trage. Oder dass ich von seinem Gewicht mitgezogen werde und nicht mehr hochkomme. Oder er sich die Stirn anschlägt. Ich sollte besser sagen: Ich schlage ihm die Stirn an. Es ist allein meine Schuld. In Windeseile entsteht eine Beule, als würde unter seiner Haut im Zeitraffer ein Ei wachsen. Genau wie auf dem Kopf des Katers Sylvester, wenn Speedy Gonzales ihm die Bratpfanne über den Schädel zieht! Ich kann mir das Lachen nicht verkneifen. Ich hole schnell einen Spiegel, er muss das sehen, bevor es wieder weg ist. An manchen Tagen lacht er mit mir. An anderen überhaupt nicht. Dann sagt er:
»Ich habe es satt, ich habe es satt, beschädigt zu sein â¦Â«
Manchmal hat Monsieur Pozzo es wirklich satt. Bei seinen Vorträgen vergisst er nie, von der Entmutigung zu sprechen, der man nie, nie nachgeben darf. Er kann stolz auf mich sein: Abgesehen von seinem Körper, den ich manchmal nicht richtig gut trage, lasse ich nie etwas fallen.
35
Als Mireille Dumas Philippe Pozzo di Borgo vorgeschlagen hat, eine Reportage über ihn und damit auch über unsere Beziehung zu drehen, hat sie zuerst ihn angesprochen. Sie hat ihn angesprochen, wie man es bei einem Paten nun mal tut, mit Achtung und Respekt. Es war im Jahr 2002 , er hatte gerade sein erstes Buch veröffentlicht. Seine Geschichte, und damit auch unsere gemeinsame Geschichte, gehörte ihm. Den jungen Abdel hat sie erst mal nicht direkt gefragt, er kommt in seinem Buch auch nicht besonders gut weg. Zum Glück, denn ich beantworte keine Anrufe, wenn ich die Nummer auf dem Display nicht kenne, ich rufe nicht zurück, wenn ich die Stimme auf dem Anrufbeantworter unsympathisch finde, und ich kann wunderbar die E-Mails ignorieren, die meinen elektronischen Briefkasten verstopfen.
Dann hat mich Monsieur Pozzo persönlich gebeten, an dem Dokumentarfilm über ihn mitzuwirken. Ich gab die einzige Antwort, die möglich ist, wenn dieser Mann mich um etwas bittet, egal, worum: Ja.
Mireille Dumas und ihr Team sind wirklich sympathisch, und die Sache ist mir nicht schwergefallen. Monsieur Pozzo und ich wurden am Drehort der Sendung Vie privée, vie publique , Privat und öffentlich , nebeneinandergesetzt und von den Journalisten als gleichwertige Interviewpartner behandelt. Ich fühlte mich nicht unbehaglich, war aber auch nicht besonders stolz. Ich fixierte das Dekor, versuchte korrekt zu antworten, natürlich, ohne zu stottern, ohne gezwungen zu klingen. Ich hörte mich das
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