Einfach losfahren
mich umgaben, scherten sich nicht um solche Dinge. Und obwohl ich bisher genau gleich getickt hatte wie sie, hatte ich sie immer lächerlich gefunden. Wenn’s hoch kam, redete ich mal einen Abend lang darüber, aber tags darauf war alles vergessen. Der Schock über Federicos Tod hatte mir die Augen geöffnet, hatte mir zumindest den Willen gegeben, es zu versuchen. Ich konnte nicht so weitermachen, ich kam nicht mehr natürlich rüber in meinem Kostüm. Wer mich beobachtete, der sah, dass sich dahinter jemand anderes verbarg, doch mein Rollenspiel verhinderte, dass ich wirklich lebte.
Damals wusste ich noch nicht, dass man jederzeit die Zügel in die Hand nehmen und das eigene Schicksal wenden kann.
»Aber wie findet man heraus, was die eigene Bestimmung ist? Woran erkennt man es?«, hatte ich Federico damals gefragt, am ersten Abend bei mir, als wir über diese Dinge sprachen.
Ich musste das Bild zerstören, das ich von mir hatte. Ich musste meinen Umgang ändern, Menschen finden, die nachvollziehen konnten, was ich empfand. Die Ähnliches durchlebt hatten wie ich. Der Kopf schwirrte mir von Tausend unzusammenhängenden Gedanken. Ich musste es schaffen, jenen Weg zu verlassen, auf dem man aus der Einsicht heraus, dass man die anderen offenbar nicht übertreffen kann, anfängt, die gleichen Dinge zu tun wie alle, bis man irgendwann genauso wird wie sie, aus Angst, man könnte ihnen unterlegen sein.
Ich musste den Mut finden aufzubrechen. Aber woher nehmen, von wem?
Im Gymnasium hatte ich mal den Satz »Porta itineris dicitur longissima esse« gelesen. Jetzt erst verstand ich, was die Lateiner damit meinten. »Die Tür ist der längste Teil der Reise«, oder, einfach ausgedrückt: Der erste Schritt ist immer der schwerste.
Ich hatte Angst vorm Sterben, ich wollte noch ein bisschen leben, etwas machen. Das war das Gefühl, das unbewusst alle meine Handlungen, Entscheidungen und Entschlüsse nährte.
Diesmal brachte ich endlich genug Mut auf. Fede hatte mir den Anstoß gegeben. Das war der Beweis für seine Anwesenheit, ich musste nicht länger verlangen, dass er Gegenstände verrückte oder Lampen anknipste. Er hat viel mehr getan, er hat mich verrückt. Er hat mein Leben angeknipst, hat mir eine neue Denkweise geschenkt.
»Verlass mich nicht, Federico!«
Eines Tages ging ich nach Hause, nahm die Quittung aus der Schreibtischschublade und fuhr die Kette für Sophie abholen. Dann kaufte ich mir ein Ticket mit offenem Datum für den Rückflug und beschloss endgültig, die Kette zu überbringen.
Danach ging ich ins Büro und bat um einen Monat Urlaub. Der Chef meinte, der Zeitpunkt sei ungünstig, es tue ihm sehr leid, er verstehe meinen Schmerz, meine Situation, aber leider könne er meinem Gesuch nicht stattgeben.
Mein Chef war kein schlechter Mensch, auch er war besser als das, was das Leben aus ihm machte. Auch er konnte sich vor lauter Sachzwängen kaum mehr rühren. Er hatte recht: Sicher war es kein günstiger Zeitpunkt, um wegzufahren, aber so gesehen gibt es nie einen günstigen Zeitpunkt.
Was ich bei ihm aber noch nie leiden konnte, war, dass er in bestimmten Situationen zum Schleimer wurde. Wenn nötig, konnte er einschmeichelnd sein wie der Duft einer Bräunungscreme. Er war einer von denen, die einen gleich wie einen Freund behandeln und mit Komplimenten und Wohlgesinntheit überhäufen, aber das war alles nicht echt, denn man musste nur einmal nicht richtig spuren, schon wurde man vom Superfreund zum lästigen Querulanten. Den gleichen Eifer, mit dem er einen bisher umschmeichelt hatte, legte er nun an den Tag, um einen fertigzumachen und zu diskreditieren. Es gab Zeiten, da hasste ich ihn, aber wenn ich weniger unterdrückt gewesen wäre, hätte ich keine so mittelmäßige Waffe benutzt. Denn Hass ist häufig nur der Schatten von etwas anderem. Hass ist ein Ausdruck der Ohnmacht.
Mein Gesuch wurde also abschlägig beschieden.
Ich erinnere mich, dass ich tief Luft holte und nach einer Sekunde beschloss, den Urlaub trotzdem zu nehmen.
Beim Hinausgehen warnte mich der Chef: Sollte ich fahren, könne ich gleich ein ganzes Jahr wegbleiben. Er war von mir enttäuscht, und deshalb hatte sich innerhalb einer Sekunde für ihn alles geändert, er erklärte mir den Krieg. Doch das jagte mir keine Angst mehr ein.
Als ich das Büro des Chefs verließ, war ich knapp dreiunddreißig Jahre alt, ich verstand mich nicht mit meinem Vater und meiner Schwester, ich hatte meine Mutter und meinen besten Freund
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