Einfach losfahren
abgestürzt.«
»Ich muss eine Lampe anbringen. Leihst du mir die Bohrmaschine?«
»Gib acht, dass du keinen Schlag kriegst und nicht von der Leiter fällst! Das geht ganz fix, ein Moment der Unachtsamkeit, und schon ist es passiert.«
Was immer ich vorhatte, er prophezeite ein böses Ende und fand ein Dutzend Gründe, um sich Sorgen zu machen.
Manchmal hatte ich sogar das Gefühl, er hoffte geradezu auf einen kleinen Unfall; damit er seine Theorie bestätigt sah und er weiter in seinem Verzichtskäfig verharren konnte.
Und wenn mal etwas schiefging, sagte er: »Was habe ich gesagt? Und ich soll ein Pessimist sein? Ich bin kein Pessimist. Eher ein Realist…«
Zig alberne Ängste habe ich ihm zu verdanken. Ohne es zu merken, hat er mir jahrelang massive Dosen Lähmungsmittel eingeimpft.
An einem dieser Abende nach Federicos Tod, als wir bei Tisch saßen und die übliche Minestrone löffelten, bedachte er Federico mit einer seiner typischen Bemerkungen: »Wäre er zu Hause geblieben, wäre das nicht passiert. Aber wenn man wie ein Irrer durch die Gegend rast, ist man irgendwie auch selbst dran schuld…«
Seine Worte taten mir weh. Sie verletzten mich tief, weil sie stellvertretend für seine Lebenshaltung standen. Ohne etwas zu erwidern, stand ich auf und ging. Ich konnte einfach nichts sagen, ich hatte begriffen, dass es vergeblich gewesen wäre. Am liebsten hätte ich meine ganze Wut vor ihm ausgekotzt. Ich war stinksauer.
Ich nahm das Auto und fuhr ein wenig durch die Gegend. Ich dachte darüber nach, wohin es mit dem Mann gekommen war, den ich als Kind so vergöttert hatte. Ich wollte nicht so enden wie er, aber ich spürte, dass ich dabei war, seinen Weg einzuschlagen, bestimmte Dinge einfach nicht zugeben zu wollen und so zu tun, als wäre nichts – einfach nicht darüber nachdenken. Es gibt eine Geschichte über einen Klapperstorch, der eine Sendung zustellen soll. Als er nachguckt, liegt statt eines Neugeborenen ein alter Mann im Laken. Der Alte guckt den Klapperstorch an und sagt: »Gib’s zu, du hast dich vertan.«
Ich war drauf und dran, das Gleiche zu tun, ich tat so, als wäre nichts, nur damit ich meine Fehler nicht zugeben musste.
Gern hätte ich geheult, aber ich heulte schon seit vielen Jahren nicht mehr. Ich konnte es nicht mehr. Die Wut über den Verlust meiner Mutter hatte alle Tränen aufgesaugt.
Ich stieg hinauf in meine Wohnung, ging ins Bad und betrachtete mich im Spiegel.
»Wer bist du? Wer bin ich? Und wann werde ich sterben? Was bin ich? Mein Gesicht? Mein Körper? Meine Stimme? Meine Hände? Was ist ein Mensch, woraus besteht er? Aus den Dingen, die er gelernt hat? Aus der Musik, die er gehört hat? Aus den Tränen, die er vergossen hat? Aus den Zärtlichkeiten, die er gegeben oder empfangen hat? Den Küssen? Wie viele Dinge machen einen Menschen aus? Wie viele Gedanken? Wie ist es möglich, dass all das verschwindet? Und wohin verschwindet es? Was wird daraus? Was bleibt?«
Ich betrachtete mich im Spiegel, und plötzlich spürte ich ein seltsames Gefühl der Wut in mir wachsen. Jene Wut, die ich die ganze Zeit unterdrückt und kontrolliert hatte. An diesem Abend verlor ich zum ersten Mal die Kontrolle. Ich fing an zu brüllen: » MIR GEHT’S MIES ! SCHLUSS SCHLUSS SCHLUSS SCHLUSS SCHLUSS SCHLUSS SCHLUSS SCHLUSS SCHLUSS SCHLUSS SCHLUSS SCHLUSS SCHLUSS SCHLUSS SCHLUSS SCHLUSS SCHLUSS SCHLUSS SCHLUSS SCHLUSS !«
Als hätte eine unbekannte Macht von mir Besitz ergriffen, begann ich alles hinzuwerfen und kaputtzumachen. Zuerst im Bad: Seife, Zahnpasta, diverse Fläschchen, dann in der ganzen Wohnung. Ich kippte den Schreibtisch und den CD -Ständer um, schleuderte die Bücher aus dem Regal, warf mit den Sofakissen und allem, was noch auf dem Küchentisch stand, um mich. Ich brüllte und zertrümmerte alles. Dann fiel ich zu Boden. Ich schrie, aber nicht mal da konnte ich weinen.
Mein Atem ging schnell. Ich keuchte.
Ich erinnere mich, dass ich wütend war. Wütend aufs Leben. Ich hasste es. Ich war wütend, weil ich wusste, dass ich ein Feigling war. Ich war wütend, weil ich im Grunde noch toter war als er.
»Federico, verdammt, wo bist du?«
»Mama, wohin bist du gegangen?«
Sie hasste ich auch, weil sie mich vor allzu langer Zeit allein zurückgelassen hatte. Ich hasste Gott, und ich hasste meinen Vater.
Ich fühlte mich elend, weil es sich so leicht stirbt. Ich fühlte mich elend, weil ich Angst hatte, mich elend zu fühlen.
Nach und nach beruhigte ich mich wieder.
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