Einfach losfahren
Seltsames ging da vor sich. Etwa zwei Wochen lang lebte ich in einem Zustand nahe an der Glückseligkeit. In Wirklichkeit verhielt ich mich wie ein Trottel. Ich brauchte nur zu sehen, wie ein Blatt sich vom Baum löste, und mir kamen die Tränen. Ich erinnere mich an einen Tag, als ich am Ufer eines Tümpels beim Anblick eines Baums, der seine Äste ins Wasser tauchte, fast losheulte. Ich war schon gerührt, wenn ich beobachtete, wie die Sonne durch die halbgeschlossenen Fensterläden Lichtstreifen auf Bett und Wand warf. Wenn ich dem Geräusch des Regens lauschte, der aufs Dach prasselte. Dem Wasser eines Brunnens. Den Zikaden an stillen Nachmittagen. Wenn ich morgens den Tau sah. All diese Augenblicke wurden plötzlich wertvoll. Mein Herz war erfüllt von Dankbarkeit.
Alles offenbarte sich mir, als wäre es das erste Mal. Vor mir entfalteten sich die unglaublichen Formen, in denen sich das Leben manifestiert, und lösten in meiner Seele eine wunderbare Empfindung aus. Dabei war alles so wie immer. Nur dass ich nicht mehr der von früher war.
In allem erkannte ich Gott.
Die Freude, die Gelassenheit, die Ruhe der Seele, das Gefühl, mit dem Wunder der Schöpfung eins und verbunden zu sein: Diese Empfindung war für mich Gott. Vielleicht ist das Gott.
Schließlich ging es mir auch mit Gegenständen so. Ich betrachtete einen Bleistift und roch an ihm. Ich berührte ein Heft. Es war schön, die Finger über das Papier streichen zu lassen. Einen Stoff zu berühren, ein Gewebe. Ich betrachtete ein Glas, eine Tasse, eine Flasche. Den Holztisch, die Lampe, einen Schlüssel. Als ich klein war, behandelte meine Großmutter die Dinge im Haus auch mit großer Aufmerksamkeit und Liebe. Die Sorgfalt, mit der sie ihr Schultertuch faltete, war heilig, fast als würde sie es liebkosen. Die Espressotassen wurden mit größter Vorsicht behandelt und waren von großem Wert, obwohl der Materialwert an sich gering war. Alles besaß eine Würde.
Meine Großmutter servierte den Kaffee mit Tasse, Untertasse, Zuckerdose und Löffelchen, als würde sie Familienmitglieder vorstellen. Man hatte fast den Eindruck, sie wäre jedem Gegenstand dankbar für das, was er war. Als dächte sie, auch sie besäßen eine Seele und wären Teil des Mysteriums des Lebens.
Dank meiner neuen natürlichen Art zu leben konnte ich auch richtig atmen. Ein Leben nach Vorgabe meines Atems, und ein Atem nach Vorgabe des Lebens. Wie man die Dinge sieht, hängt nicht davon ab, was sie sind, sondern wer man ist. Alles war lebendig, alles vibrierte und bewegte sich, und doch schien alles so still, reglos, statisch, obwohl es in Wirklichkeit von der Symphonie des Lebens durchdrungen war. Wenn ich meine Umwelt betrachte, erstaunt mich manchmal die Tatsache, dass all das Kommen und Gehen des Lebens, all die Spiele, die Entwürfe und die unendliche Aktivität, sich so still vollziehen.
Das, was ich mir im tiefsten Innern für mich selbst gewünscht hatte und was zu tun ich mich früher nicht getraut hatte, war Wirklichkeit geworden. Als hätte man unterm Weihnachtsbaum genau das Geschenk gefunden, das zu wünschen man sich nie getraut hat. Zum Glück dauerte diese Phase nicht lange, sonst hätte ich bald noch angefangen, mit den Tieren zu sprechen wie der heilige Franziskus. Besser so. Denn mal ehrlich, bei allem Respekt, was zum Teufel hätte ich mit einem Spatzen zu bereden?
Eines Tages bekam ich plötzlich Lust zu schreiben. Ich spürte das Bedürfnis, als müsste ich irgendetwas loswerden. In mir lebte ein anderer Mensch, der mit wenig auskam und trotzdem gut lebte, der sich selbst zuhören konnte. Ich war aufmerksam. Aufmerksamkeit, so heißt es, ist das spontane Gebet der Seele. Meine Seele betete also. Ich war in der letzten Zeit total egoistisch gewesen, und ich war froh darüber. Ich wäre auch gar nicht in der Lage gewesen, anderen zu helfen oder mich um andere zu kümmern. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich mich vor allem anderen an die erste Stelle gesetzt. Ohne Schuldgefühle. Ich brauchte es. In jenen Tagen spürte ich das Bedürfnis zu schreiben. Aber ich hatte mich nicht extra hingesetzt, um meinen Traum zu verwirklichen und ein Buch zu schreiben. Es geschah einfach so, ohne Plan. Ohne Ziel. Die neue Art zu leben hatte mir etwas geschenkt, worüber ich schreiben konnte.
Und so fing ich eines Tages an, mein Buch herunterzuschreiben. Wenn ich in der Vergangenheit von gewissen Gedanken und Gefühle bedrängt worden war, hatte ich sie nie in Worte
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