Einfach losfahren
wie noch nie. Wie der Junge, der das Augenlicht neu gewonnen hat, sah ich die gleichen Dinge wie früher auf neue Art, in anderem Licht. In jenem Augenblick, so kam es mir vor, begann ich wahrhaftig zu leben.
Ich ließ mir von Sadi den Schädel kahlrasieren. Ich wollte anfangen zu leben, und diese symbolische Geste sollte mich daran erinnern. Ich wusste nicht, wie lange ich auf den Kapverden bleiben würde. Ich dachte nicht daran, für immer hierzubleiben; bestimmt würde ich früher oder später zurückkehren, aber in diesem Moment war es nicht wichtig, wann. Meinen Ängsten hatte ich mich noch nicht gestellt, aber das Erlebnis mit Tina hatte eine Blockade gelöst. Möglich, dass ich nach einer gewissen Zeit wieder in alte Ängste verfallen würde, aber das war jetzt nicht wichtig, ich wollte nur dieses wunderbare Gefühl auskosten. Alle meine Sinne waren geweitet. Jeden Morgen, wenn ich bei Sonnenaufgang erwachte, schmeckte ich die Stille, die wunderbare Wärme der gerade aufgegangenen Sonne. Sie fühlte sich auf der Haut an wie die Liebkosung eines Freunds. Eine zarte Berührung. Oft frühstückte ich und machte dann allein einen langen Spaziergang am Meer. Wenn ich zurückkehrte, um zu arbeiten, kam es mir vor, als wäre schon eine Menge Zeit vergangen. Morgens um neun war mir, als hätte ich schon einen ganzen Tag lang geatmet. Ich dachte nach, ging spazieren, schaute mich um. Ich lebte gut. Abends im Bett las ich. Ich ging gern schlafen, ich stand gern auf.
Bevor ich nach Boa Vista kam, brauchte ich Handy und Wecker, um aufzuwachen, und wenn es zu piepen begann, drückte ich die Sleep-Taste, damit es nach fünf Minuten noch mal klingelte. Das konnte gut und gern eine halbe Stunde lang so weitergehen, bis ich endlich aufstand. Eine echte Tortur. Ich erinnere mich, dass Federico und ich uns gegenseitig den Streich spielten, beim jeweils anderen die Weckzeit zu verstellen, auf früher, natürlich. So verließ ich einmal das Haus in der Gewissheit, es sei halb acht, bis ich merkte, dass es draußen dafür noch ein bisschen duster war. Ich sah auf die Uhr, und es war erst halb sieben. Deshalb hatte ich, wenn ich aufwachte, oft gehofft, dass Federico mir wieder diesen albernen Streich gespielt hätte und ich noch ein bisschen weiterschlafen könnte. Wenn ich dann auf die Uhr schaute und feststellte, dass der Wecker richtig ging, war ich immer ganz enttäuscht.
Sogar das Einschlafen war anders geworden. Früher war es mir oft passiert, dass ich nicht einschlafen konnte, selbst wenn ich sehr müde war. Ich saß zum Beispiel auf dem Sofa oder am Tisch und konnte die Augen nicht mehr offen halten, aber sobald ich im Bett lag, war ich putzmunter. In Boa Vista hatte ich nie Probleme einzuschlafen; manchmal war ich wie eine dieser Puppen, die automatisch die Augen schließen, sobald man sie hinlegt.
Zu leben wurde die Medizin der ersten Zeit, obwohl es offensichtlich war, dass das allein nicht genügen würde; doch meinen Rhythmus zu haben, ohne Eile spazieren zu gehen, auf meinen Schritt zu lauschen, all das hat mir anfangs geholfen. Kleine Qualen verflüchtigten sich dabei. Allem begegnete ich auf neue Weise. Alles hatte einen anderen Wert. Ich war aufmerksamer. Es machte mich glücklich, mir die Zeit zum Nachdenken zu nehmen, zum Zuhören, zum Mir-Zuhören. Früher hatte ich die ganze Zeit versucht, mich von mir und meinem Leben abzulenken, jetzt tat ich das Gegenteil. Ich nutzte jede Gelegenheit dazu, um bei mir selbst Zuflucht zu suchen, und genoss meine Gesellschaft, meine Gedanken und meine Fragen. Ich fühlte mich, als hätte ich mich mit mir selbst verlobt.
Schreiben half mir dabei sehr, und Lesen. Federicos Bücher. Manchmal hatte er etwas unterstrichen, und ich nahm diese Passagen wie Worte, die er zu mir sagte. Den ersten dieser unterstrichenen Sätze, den ich las, habe ich auswendig gelernt: »Diejenigen, die das Unmögliche fordern, erreichen wenigstens das Mögliche. Diejenigen, die sich weise auf das beschränkt haben, was ihnen möglich schien, sind niemals einen Schritt vorangekommen.« Worte Bakunins.
Ich war gern allein in der Stille. Die Stille war eine der faszinierendsten und geheimnisvollsten Erfahrungen dieser Zeit, und zwar so sehr, dass ich heute nicht mehr darauf verzichten kann. Die Stille ist zu einer Gewohnheit meines neuen Lebens geworden. Denn es war die Stille, die intime Beziehung zur Natur und ihre Betrachtung, die mir die Begegnung mit jenem Teil von mir geschenkt hat, mit dem ich
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