Einfach losfahren
bisher aber nicht geschafft. Jetzt bot sich die rechte Gelegenheit. Inzwischen wusste ich, wann es so weit war.
Hallo Papa,
wie geht’s? Ich schreibe Dir, und dabei fällt mir auf, dass ich das noch nie getan habe. Als Erwachsener, meine ich, denn in der Schule mussten wir am Vatertag ja immer Grußkärtchen basteln, auf denen stand: »Herzlichen Glückwunsch, Papa, ich hab Dich lieb.«
Ich bin jetzt schon eine Weile von zu Hause fort, und da dachte ich, ich schreib Dir ein paar Zeilen und erzähle Dir, wie’s mir geht.
Vieles in meinem Leben hat sich verändert, und dieser Brief hier ist ein Ergebnis davon.
Dir zu schreiben fällt mir schwer, Papa. Hätte ich nicht gedacht. Ich hab noch nichts gesagt, und das Blatt ist schon voll. Ich könnte anfangen mit: »Ich hab Dich lieb«, wie auf den Grußkarten aus der Schule, aber das halte ich für keine gute Idee. Dass ich Dich liebhabe, wissen wir.
In den letzten Jahren haben wir nicht viel miteinander geredet. Es war nicht leicht. Das Leben hat uns vor schwere Bewährungsproben gestellt, und vielleicht waren einige davon zu schwer, für Dich wie für mich. Wir mussten uns schützen, um zu überleben. Damit es Dir nicht noch schlechterging, hast Du Dich in deinem Unglück und Deiner Einsamkeit verschanzt und mich außen vor gelassen. Du hast mich nicht mehr an Dein Herz herangelassen, ich durfte Deine Wärme nicht mehr spüren. Und ich habe mein Leben allein geführt, draußen vor der Tür zu Deinem Unglück, an die ich klopfte, damit Du mich einlässt und ich Dir nahe sein kann. Ich wollte dort bei Dir sein, aber Du hast es verhindert. Du hast mir nicht mehr geöffnet, Papa, wahrscheinlich hast Du nicht mal mein Rufen und mein Weinen gehört. Du hast so getan, als würdest Du es nicht hören. Dafür habe ich Dich gehasst, weil Du nie imstande warst, mir zuzuhören und mich wirklich zu verstehen. Du hast mir nie auf den Grund der Augen geschaut. Du hast nie gesehen, wer ich wirklich bin. Und noch etwas will ich Dir sagen: Oft habe ich sogar gedacht, mir wäre es lieber gewesen, Du wärest gestorben und nicht Mama. Aber vielleicht hast Du Dir das ja selbst gewünscht. Ich habe Dich vor allem deswegen gehasst, weil Du Dich nie um Dein eigenes Glück gekümmert hast. Du hast einen unglücklichen Vater abgegeben. Und das hat verhindert, dass ich glücklich geworden bin, denn es wäre mir wie Verrat vorgekommen, ich hätte mich schuldig gefühlt und gedacht, ich würde mich noch mehr von Dir entfernen. Ich hätte mich anders gefühlt. Da ich Dich also nicht glücklich machen konnte, habe ich begonnen, Dein Unglück, so gut es ging, zu teilen. Stets außerhalb der Mauern Deiner Gleichgültigkeit. Mir kam es vor, als würde ich Dir damit helfen, Dir das Leben erleichtern. Auf mein Glück zu verzichten schenkte mir vor allem die Illusion, ich könnte Dir helfen. Als würdest Du Dich ob des zweifachen Leids weniger allein fühlen. Unglücklich zu sein brachte Dich mir näher.
Als ich von zu Hause auszog, hast Du mir das Gefühl gegeben, ein Verräter zu sein. War es zu viel verlangt, mich darin zu unterstützen, erwachsen zu werden?
Und außerdem hast Du nie eine Auseinandersetzung zugelassen. Einen Austausch von Meinungen und Ideen. Das war mit Dir nie möglich, denn Du hattest Dich wie ein Integralist hinter Deinen Überzeugungen verbarrikadiert und abgeschottet und hast jede Gelegenheit zur Auseinandersetzung in einen Konflikt verwandelt.
In letzter Zeit habe ich viel über mein Leben nachgedacht, und mir ist vieles klargeworden. Ich habe mich abgerissen und wiederaufgebaut wie ein altes Haus. Mit kleinen Ausbesserungen hier und da war es nicht mehr getan. Ich musste alles einreißen und von Grund auf neu bauen. Manches konnte ich gebrauchen, es war nicht alles Schrott. Ich habe etwas Wichtiges gelernt, nämlich mir zu verzeihen, und vor allem habe ich begriffen, dass ich glücklich sein möchte. Immer schon habe ich daran gedacht, aber ich hatte es mir nie zum Ziel gesetzt. Ich dachte, ich hätte es nicht verdient. So wie ich dachte, ich hätte die Zärtlichkeit nicht verdient, die Du mir nicht gegeben hast, und das In-den-Arm-Nehmen, das Du mir verweigert hast. Doch jetzt weiß ich, dass ich alles Glück der Welt verdiene. Und das auch deshalb, weil ich mich ein Stück von Dir befreit habe. Versteh diese Zeilen bitte nicht als Rundumschlag, als Anklage oder gar Verurteilung. Ich kenne Deine Geschichte, ich weiß, dass Du eher Opfer als Täter bist. Deine Eltern,
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