Einfach losfahren
ich mich nie, was mich glücklich machen würde, sondern immer, was meinen Vater glücklich machen würde. Ich wollte, dass er stolz auf mich war. Bevor ich zu etwas ja oder nein sagte, fragte ich mich immer, welche Entscheidung ihm mehr zusagen würde, aber es war alles vergebens. Und so stand ich irgendwann mit einem Arztdiplom in der Tasche da, das mir völlig gleichgültig war. Für Medizin habe ich mich, glaube ich, deshalb entschieden, weil er Arzt war, und Kinderärztin bin ich geworden, weil ich alle Kinder auf der Welt heilen wollte in der Hoffnung, das Mädchen zu heilen, das ich selbst gewesen war. Ich stand kurz vor der Hochzeit, alles war vorbereitet. Zum Glück habe ich mich rechtzeitig eines anderen besonnen. Nachdem ich diesen Schaden angerichtet und eine Menge Leute verletzt hatte, allen voran meinen Ex-Fast-Ehemann, bin ich fortgegangen und irgendwann hier gelandet. Inzwischen weiß ich auch, warum ich heiraten wollte, ich kenne den wahren Grund: In meiner Vorstellung war dies ein besonderer Tag, eine einmalige Erfahrung, die ich unbedingt machen wollte. Ich war mehr von der Idee der Hochzeit fasziniert als davon, tatsächlich zu heiraten. Das Fest, das Kleid, das Treueversprechen wollte ich nicht versäumen, aber eigentlich hätte mir dieser eine Tag und danach vielleicht noch ein paarmal Frühstücken in der gemeinsamen Wohnung genügt. Punkt. Zum Glück ist es so ausgegangen.
Ich habe gelernt, mich nicht mehr um die Meinung meines Vaters zu scheren, was natürlich nicht ganz stimmt, denn es tut mir trotzdem leid. Es tut mir vor allem leid, dass er mich nicht begreift, aber es verletzt mich nicht mehr so sehr, dass ich dem meinen Willen unterordne.
Sonst wäre ich jetzt Kinderärztin, würde mit meinem Mann auf dem Land leben und hätte bestimmt mehrere Kinder und einen Hund. Die fleischgewordene Phantasie eines Werbeheinis.
Armer Papa, er ist völlig unfähig, mit seinen Gefühlen umzugehen, er kann einem wirklich leidtun. Alle Welt schätzt ihn, aber zu Hause war er nicht in der Lage, einmal von Herzen ›Ich hab dich lieb‹ zu sagen. Folgerichtig hat er auch eine Frau wie Mama geheiratet, die praktisch aus Eis ist, so was von unterkühlt und streng auf Ordnung und Disziplin bedacht. Tochter eines Generals. Als wir die Vorbereitungen für meine Hochzeit trafen, hatte man den Eindruck, sie wäre es, die heiratet. Alles hat sie organisiert. Wirklich ein perfektes Paar.«
»Was meinst du damit: ›Alles hat sie organisiert‹? Hast du dich so spät dagegen entschieden? War wirklich schon alles vorbereitet?«
»Erst eine Woche vorher, und ich weiß heute noch nicht, woher ich die Kraft dafür genommen habe… vielleicht war es meine Verzweiflung, die aus der Verwirrung einen klaren Gedanken hat aufsteigen lassen.«
Während sie über ihren Vater sprach, stellte ich fest, dass er eine Menge mit meinem gemeinsam hatte. Auch ich hatte den Wunsch gehabt, mehr Zeit mit ihm zu verbringen, und ganz gewiss war auch er gänzlich unfähig gewesen, seine Gefühle auszuleben.
»Als Kind durfte ich mich nicht beklagen. Meine Familie ist reich, und man zwang mich fast dazu, mich immer glücklich zu schätzen und an die Menschen zu denken, denen es bedeutend schlechterging. Es war, als wünschte ich mir ein einfaches Glas Wasser und bekäme jedes Mal kostbarsten Champagner serviert. Deshalb dachte ich jahrelang, ich sei auf dem Holzweg, ich sei nicht bescheiden genug, sondern verwöhnt und missraten. Dabei hatte ich nur das Bedürfnis nach einem Glas Wasser. Ich hatte den Champagner nicht gefordert, sie hatten ihn mir gegeben, weil Wasser nicht genügte, um damit ihre Schuldgefühle zu ertränken, ihre innere Abwesenheit, ihre Versäumnisse.
Außerdem war meine Mutter in allem perfekt. Sie war schön, intelligent, elegant. Für sie hatte ich nie genug Niveau.«
Sophie schien weniger mir etwas zu erzählen, als sich Luft zu machen. Wie ein Fluss, der über die Ufer tritt. Und ich ließ sie gewähren, ohne sie zu unterbrechen. In ihren Worten lagen weder Groll noch Wut, im Gegenteil, sie war gelassen und schien fast über einen anderen Menschen zu sprechen, nicht über sich.
Später begleitete ich sie nach Hause, und als ich wieder in meinem Zimmer in der Posada war, begann ich zu schreiben. Doch an diesem Abend arbeitete ich nicht an meinem Buch; bestürmt von den Gefühlen, die Sophies Erzählung in mir ausgelöst hatte, schrieb ich einen Brief an meinen Vater. Das hatte ich schon lange tun wollen, es
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