Einfach losfahren
Deine Geschwister haben Dich gezwungen, hart zu werden, um zu überleben. Und wenn wir zurückgehen, ist es Großvater mit dem Urgroßvater und dem Urgroßvater mit seinem Vater und immer so weiter bestimmt genauso ergangen. Ich schreibe Dir auch deshalb, damit wir diese Kette sprengen.
Was ich heute endlich weiß, ist, dass ich Dich liebe. Ich liebe Dich, Papa. Ich liebe Dich ganz fest. Aber um Dich so lieben zu können, musste ich Dich töten, musste ich Dich zur Verantwortung ziehen, musste ich Dich als das sehen, was Du bist. Wunderbar. Ein Schmerz.
Ob Du’s glaubst oder nicht: Als ich ein Kind war, gab es Momente, da wollte ich Dich wirklich umbringen. Ich wollte Dich töten, weil ich Dich so sehr liebte, dass ich den Schmerz nicht ausgehalten hätte, wenn auch Du von einem Tag auf den anderen gegangen wärst, wie Mama. Die Angst, Dich plötzlich zu verlieren, war so groß, dass ich keinen Frieden mehr fand. Wenn ich Dich umgebracht hätte, hätte ich diese Angst, die mich daran hinderte, ein unbeschwertes Leben zu führen, nicht mehr zu haben brauchen.
Auch ich bin nicht frei von Schuld.
Ich habe verstanden, dass ich eine schwere Bürde auf meinen Schultern trug und dabei dachte, ich sei ein Opfer der Umstände, doch in Wirklichkeit hatte ich es mir selbst zuzuschreiben; ich hatte beschlossen, so zu sein, ich hatte mir diesen Zustand selbst auferlegt, niemand hatte das von mir verlangt. Ich fühlte mich wichtig so, und schließlich habe ich mich in die Rolle eingelebt, nicht weil ich mich hätte opfern müssen, sondern allenfalls aus Eitelkeit, aus Narzissmus. Inzwischen ist mir das alles klargeworden, und so konnte ich anfangen, ein bisschen Ordnung zu schaffen.
Du hast mir nie mehr die Haare gezaust, Papa… Weißt Du noch, wie Du mir früher immer mit der Hand durch die Haare gefahren bist oder mich gekitzelt hast? Erinnerst Du Dich, wie wir miteinander gerauft haben oder wie ich Dich im Armdrücken besiegt habe? Behaupte bloß nicht, Du hättest mich gewinnen lassen.
Ich weiß nicht, wie lange ich noch hierbleibe. Ich habe keine Pläne, außer dass ich mir darüber klarwerden will, wer ich bin und was ich mit meinem Leben wirklich anfangen möchte.
Ich möchte Dich sehen. Als ich an Dich dachte, wünschte ich mir, bei Dir zu sein. Ich träume davon, noch einmal mit Dir spielen und lachen zu können. Ich möchte, dass Du mir die Haare zaust und mich in den Arm nimmst. Und Du darfst Dich im Armdrücken revanchieren.
Gehst Du mit mir ein Eis kaufen?
Ich liebe Dich, Papa, ich liebe Dich wirklich… auf bald!
Dein Sohn
Michele
Ihm kann das nicht passieren
Ich blättere eine Monatszeitschrift durch, die ich auf dem Tisch gefunden hatte. Sie ist voll mit Abbildungen nackter Frauen und eindeutiger Situationen. Das halbnackte Mädchen auf dem Titelblatt sieht Kate sehr ähnlich, und ich muss an sie denken. An unsere wunderbare Begegnung.
Ein paar Tage vor meiner Rückkehr nach Italien tauchte eine junge Kanadierin in der Posada auf. Es war Samstagmorgen. Sie hieß Kate und suchte ein Zimmer für ein paar Nächte. Im Unterschied zu den anderen Gästen der Posada ging sie kaum ans Meer. Meist spazierte sie ins Dorf und kaufte Kleinigkeiten, hier ein Kettchen, da einen Ring aus Kokosnuss oder so. Oft blieb sie aber auch auf der Veranda und las. Las und schrieb. Eines Nachmittags ging ich zu ihr und lud sie auf ein Bier ein. Das Hauptproblem für allein reisende Frauen ist, allein zu bleiben. An jedem beliebigen Ort der Welt wartet immer ein Mann, der glaubt, sie suche Gesellschaft. Ich brachte ihr das Bier und wollte gleich wieder gehen, um sie nicht zu stören.
Aber da fing sie selbst ein Gespräch an und fragte mich, woher ich käme, seit wann ich schon da sei und so weiter. Wir fingen also an, uns zu unterhalten. Ich hatte ihren Pass gesehen und wusste daher, dass sie aus Kanada kam und fünfundzwanzig war. Sonst wusste ich nichts über sie.
Da sie Kanadierin war, dachte ich sofort, sie würde mich zu einer Darmspülung überreden wollen, wie es Fede passiert war.
»Do you know idrocolon?«
»What?«
»Nothing… anyway.«
Am Montag drauf wollte sie ihre dreimonatige Reise beenden und zurück nach Kanada fliegen. Sie hatte sich diese Reise schon immer gewünscht und war glücklich, dass sie sie gemacht hatte. »Eine der schönsten Erfahrungen meines Lebens«, sagte sie.
Ich weiß nicht, warum, aber mit Leuten, die man auf Reisen kennenlernt, ist man sofort sehr vertraut. Wie unter alten
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