Einfach losfahren
erleben.
Francesca hat mir haarklein erzählt, was sie erlebt und empfunden hat. Zum Beispiel dass sie nach der Geburt ein Gefühl der Leere verspürte. Jetzt, da Alice draußen war, kam sie sich entleert vor. Um diese Erfahrung beneide ich die Frauen sehr. Francesca brauchte wirklich Ruhe. Dieses Erlebnis hatte sie unheimlich erschöpft. Sie musste wieder zu Kräften kommen, vor allem aber sich als Person zurückgewinnen. Sich wieder ihrer selbst vergewissern, ihrer Weiblichkeit und ihrer Art, Frau zu sein – und nicht nur Mutter. Sie musste ihr ganz individuelles Innenleben zurückgewinnen. Es war nämlich nicht nur eine Frage der Physis.
Als Francesca nach sechs Monaten abstillte, fanden wir, es wäre vielleicht eine gute Idee, wenn sie mal ein paar Tage für sich sein könnte. Ich würde mich um Alice kümmern. Das traute ich mir zu.
Alice sei Dank hat auch meine Schwester wieder eine Rolle in meinem Leben übernommen. Es war eine gute Gelegenheit, uns einander anzunähern. Das hatte sich schon vorher angebahnt, als meine Schwester vor ein paar Monaten auszog und ich ihr beim Umzug und den anfallenden Arbeiten geholfen habe. Alices Geburt hat unsere Annäherung beschleunigt. Meine Schwester und ich, wir haben uns nie gestritten, und dennoch hatten wir eine schlechte Beziehung. Jetzt bauen wir eine neue Beziehung auf, ich gehe abends oft zu ihr zum Essen, oder sie kommt zu mir, und wir unterhalten uns. Dabei habe ich einiges über sie erfahren, was ich noch nicht wusste. Meine Schwester hilft uns viel mit Alice, sie ist eine engagierte und liebevolle Tante, und vor allem ist sie praktisch veranlagt, und das können wir am allermeisten gebrauchen.
Ich bin froh über das neue Verhältnis zu meiner Familie. Es ist ein schönes Gefühl.
Das Problem mit Francescas Reise war, dass sie und Alice symbiotisch miteinander verbunden waren und eine Trennung weniger körperlich, wohl aber seelisch schwierig zu werden drohte.
Viele Mütter haben ein Problem damit, einem anderen ihr Kind anzuvertrauen. Sie denken, nur sie allein könnten es trösten, nur sie würden verstehen, was es hat, nur sie seien unersetzlich. Zum Teil haben sie recht, aber eben nur zum Teil. Manchmal geht es aber auch einfach nur um tradierte Rollen. Francesca vertraut mir. Und deshalb fuhr sie schließlich zehn Tage lang weg. Sie hatte erwogen, Sophie zu besuchen, aber letztlich entschied sie sich für einen Ort, an dem niemand sie kannte und wo sie völlig abschalten konnte.
Sie fuhr nach Mexiko.
Alice und ich brachten sie zum Flughafen. Francesca weinte, als sie sich an der Passkontrolle von uns verabschiedete. Alice hing in ihrem Tragesitz an meiner Brust. Mir geht’s immer mies, wenn ich mich von Francesca trennen muss, aber ich finde diesen Schmerz auch rührend, ergreifend, er macht mich melancholisch. Ich kann’s nicht erwarten, dass sie zurückkommt. Auf der Rückfahrt im Auto saß Alice wie immer in ihrem Sitz auf der Rückbank. Ich beobachtete sie durch den Rückspiegel, während sie auf ihrem Gummifisch herumkaute und sich umsah. Die folgenden zehn Tage wohnte ich bei Francesca, weil dort Alices Sachen waren. Ab und zu schliefen wir auch bei mir, denn ich wollte ihr meine Platten vorspielen. Wenn Alice groß ist, wird sie zwei Zuhause haben, und manchmal werden wir alle drei zusammen sein, manchmal nur Alice und Francesca oder Alice und ich.
Wenn man nur mit einem Elternteil zusammen ist, kommuniziert man auf andere Art mit ihm, intimer. Man unterhält sich so, wie es mit beiden Eltern zusammen nie möglich wäre. Wenn man mit der Mutter allein ist, redet man auf eine bestimmte Art, und wenn der Vater dazustößt, verändert sich alles, die Rollen sind offensichtlicher, wenn alle in einem Raum sind. Bei den Abendessen mit meiner Schwester, die neuerdings stattfinden, habe ich einen neuen Menschen entdeckt.
Francesca und ich telefonierten täglich, und anfangs erzählte sie mir, sie fühle sich komisch. Als ob sie nach einem langen Schlaf ins Leben zurückgekehrt wäre und fast verlernt hätte, wie das ist, nur an die eigenen Bedürfnisse denken zu müssen. Wir fehlten ihr sehr, und sie fehlte uns auch, aber Alice und mir ging es gut, und Francesca lernte, sich keine Sorgen zu machen.
Sie freue sich über uns, sagte sie, über das, was wir getan hätten, und über unsere Art des Zusammenseins.
Ich trug ihr auf, das Meer von mir zu grüßen, und fragte sie, ob die Wellen auch in Mexiko ihren Namen sagten.
»Meinen Namen?«
»Na,
Weitere Kostenlose Bücher