Einfach mehr Charisma
beschäftigt. Charisma ist für Bourdieu und für andere Forscher, die auf seiner Arbeit aufbauen, nicht eine Gabe, die einer Person als göttliches Geschenk anhaftet, sondern sowohl soziales als auch symbolisches Kapital, das einer Person einen großen Wettbewerbsvorteil im Kampf um gesellschaftliche Positionen ermöglicht. Es handelt sich damit um eine sozial-kulturell konstruierte Zuschreibung. Charismatische Personen tragen nach diesen von Bourdieu entwickelten und von weiteren Forschern wie zum Beispiel dem franzöischen Historiker Vincent Azoulay weitergeführten Kriterien folgende Merkmale:
Sie sind gebildet.
Sie gehören der oberen sozialen Schicht an.
Sie haben eine besondere Erziehung genossen.
Sie sind eingebunden in Netzwerke, haben Gönner und Mentoren.
Sie haben eine Vision.
Sie haben ein attraktives Äußeres und Ausstrahlung.
Diese Merkmale sind, im Unterschied zum Charisma-Begriff von Max Weber, nur zum Teil angeboren, denn selbst das Äußere oder der Intellekt unterliegen Entwicklungsprozessen. Das soziale Umfeld und die Bildung spielen für die Ausbildung von Charisma eine gewisse Rolle, Charisma ist also im Laufe der Sozialisation erlernbar. Milieuzugehörigkeit und Netzwerke sowie der Zugang zu einer bestimmten Form von Bildung als erforderliche Grundbedingungen zeigen die Grenzen dieses Erklärungsansatzes jedoch auf: Die charismatische Persönlichkeit eines Barack Obama kann damit beispielsweise ebensowenig in allen Facetten erklärt werden wie die Ausstrahlung von Menschen wie Mutter Teresa, Mahatma Gandhi oder Arnold Schwarzenegger. Die Genannten haben Grenzen ihrer Herkunft überwunden, sie haben die Schicht und das Milieu ihrer Eltern hinter sich gelassen, sich Zugang zu Bildung und Netzwerken geschaffen und spannende Brüche in ihrem Leben vollzogen, die sie erst zu denen machten, die sie waren oder sind.
Sehen wir uns also noch weitere Erklärungsmodelle an, mit denen die Wissenschaft sich dem „Charisma“ nähert. Einen weiteren Ansatz findet man bei der Soziologin Annie Cathelin, die „Charisma“ auf Basis psychoanalytischer Theorien und in Fortführung des Charisma-Begriffs von Max Weber mit religiösen Aspekten erklärt. Für die Wissenschaftlerin ist eine charismatische Persönlichkeit jemand, der besonders bei gesellschaftlichen Veränderungen und Umwälzungen in Erscheinung tritt und zwischen Altem und Neuem vermittelt. Sozusagen ein Mediator, der über eine Art Heilslehre, eine Vision verfügt, die zu vermitteln er in der Lage ist. Andere Wissenschaftler gehen in eine ähnliche Richtung, indem sie den Aspekt der Veränderung und der Fähigkeit, Erwartungen und Hoffnungen der Menschen anzusprechen, als Verstärker von Charisma sehen. Merkmale einer charismatischen Persönlichkeit sind nach diesem Erklärungsansatz zum Beispiel:
großes Selbstvertrauen
Führungsqualitäten
Analysefähigkeit
hohe Präsenz
Redefähigkeit
Stimmqualität
Fähigkeit, im Gegenüber Wünsche zu wecken
eigene Mythenbildung („Auserwähltsein“)
Begeisterungsfähigkeit
Wahrhaftigkeit
Einfachheit
Enthusiasmus
Überzeugungskraft
Wenn wir uns noch mal an die vier Namen Obama, Mutter Teresa, Gandhi und Schwarzenegger erinnern, so zeigen sich in dieser Zusammenstellung von Merkmalen schon mehr Ansatzpunkte, die uns verstehen helfen, was Charisma ausmacht. Interessant auch in diesem wissenschaftlichen Modell von der charismatischen Persönlichkeit, die in Zeiten der Veränderung zu strahlen vermag: Charismatisches Verhalten ist eine Frage der Gewohnheit, die Grundlagen für Charisma sind psychologischer Art. So hat eine Studie von Hans G. Klinzing und Gerada B. Aloisio aus dem Jahr 2006 gezeigt, dass man durch gezieltes Training und eine deutliche Verbesserung der Fähigkeit, nonverbale Hinweise zu entschlüsseln und selbst einzusetzen, seine Außenwirkung merklich verbessern kann. Personen, die also geübt haben, nonverbale Signale besser zu verstehen und zu zeigen, wird ein ausgeprägteres Charisma zugeschrieben.
Der französische Sozialpsychologe Alexandre Dorna weist dem Träger von Charisma feste psychologische Bestandteile zu sowie populistische und messianische Aspekte. „Wer verführen will, muss vereinfachen“, lautet eine seiner Maximen. Auch er betont die Veränderungssituation, in der der charismatische Führer zum Zuge kommen und als „Antidepresseur“ wirken kann.
Viele Analysen von persönlichem Charisma stimmen darin überein, dass Charisma eine Mischung aus persönlichen Gaben ist,
Weitere Kostenlose Bücher