Einfach mehr Charisma
seien dies natürliche Gaben wie Schönheit und Stimmqualität oder soziale Gaben wie eine gehobene Abstammung. Die meisten Autoren folgen dabei dem Ansatz von Pierre Bourdieu, der Charisma als soziale Konstruktion sieht. Charisma ist demnach ein Zusammenspiel erlernter, trainierter, über einen längeren Zeitraum angeeigneter Mittel zur Durchsetzung, die zu einem bestimmten Zeitpunkt zum Tragen kommen können, wenn die Person zudem eine Vision und die Fähigkeit zur Motivation mitbringt und die äußeren Umstände günstig sind. Gesellschaftliche Umbrüche werden ebenso wie die soziale Herkunft als Chance für charismatische Personen genannt. Als Merkmale tauchen immer wieder Redefähigkeit, Motivations- und Begeisterungsfähigkeit, visionäres, aber auch analytisches Denken, soziale Kompetenz, Optimismus und herausstechende Körpereigenschaften auf. Ein bestimmtes Umfeld von Mentoren und Netzwerken kann die Entwicklung einer charismatischen Persönlichkeit auf jeden Fall fördern.
Charisma und Führungskompetenz
Auch die Wirtschaftspsychologie befasst sich seit den 1970er Jahren mit dem Begriff Charisma beziehungsweise dem Modell der charismatischen Führung. Diesen Ansätzen der Führungsforschung ist gemein, dass sie sich auf die Notwendigkeit einer Vision als bindendes und verbindendes Element von Charisma beziehen. Die Interaktion charismatischer Führungskräfte wird hier nur beiläufig erwähnt.
Für den US-amerikanischen Wissenschaftler Robert J. House ist charismatische Führung eine Kombination aus persönlichen Eigenschaften des Führers, seinem Verhalten und situationsbedingten Faktoren. Zu den persönlichen Eigenschaften gehören für ihn ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl, die Tendenz, andere Menschen zu dominieren und zu beeinflussen, sowie eine starke Überzeugung, was die eigenen Werte betrifft. Die Führungskraft muss, um mögliche Anhänger von diesen Werten zu überzeugen, eine Vision formulieren und ihr Image so ausrichten, dass sie kompetent und erfolgreich wirkt. Die Anhänger der Führungskraft akzeptieren deren Wertesystem, und wenn es gelingt, den Anhängern zu vermitteln, dass sie den Zielen gerecht werden können, so fühlen sich diese motiviert, diese Ziele tatsächlich zu erreichen und den Anführer zu unterstützen. Die Situationen, die einen charismatischen Führungsstil besonders begünstigen, sind, so der Wissenschaftler, Krisenzeiten, weil genau dann die Menschen eine richtungweisende Vision brauchen.
Boas Shamir, Anthropologe und Soziologe, hat die Arbeit von House weitergeführt und die Frage untersucht, was Menschen dazu motiviert, einen Anführer zu unterstützen. Er fand heraus, dass die meisten Menschen bestrebt sind, die eigene Identität zu bekräftigen beziehungsweise zu bestätigen und so ihr Selbstkonzept zu stärken. Charismatischen Führungspersönlichkeiten gelingt es, das Selbstkonzept der Anhänger mit ihrer Vision in Einklang zu bringen. Die Anhänger identifizieren sich mit der Vision und bemühen sich um deren Umsetzung. Dafür werden sie mit einem erhöhten Selbstwertgefühl belohnt.
Einer der renommiertesten Charismaforscher, Jay A. Conger, hat die Kapitelüberschriften in seinem Buch The Charismatic Leader entsprechend seiner nüchternen Betrachtung der großen Führungspersönlichkeit benannt: eine Vision vermitteln, die inspiriert; den Eindruck von Glaubwürdigkeit sowie Sachverstand aufbauen; andere ermuntern, den Traum zu verwirklichen; außerordentliches Engagement bei Gefolgsleuten hervorrufen. Um diesen Zweck zu erreichen, braucht es, so Conger, keine langatmigen Strategiepapiere, sondern knackige Parolen: „People need something simple.“
Charismatische Führung entsteht nach Conger in einem mehrstufigen Prozess: Die Führungskraft analysiert zuerst den Status quo und deckt dessen Unzulänglichkeiten auf. Daraufhin formuliert sie eine Vision, die den Status quo dramatisch verändern wird. Je stärker die Vision vom Status quo abweicht, desto mehr erscheint es, als habe der Führer eine außerordentliche Vision und nicht nur einfache Ziele, und desto mehr Charisma wird man ihm zuschreiben. Der Führer stellt sich zudem selbst als Vorbild dar, indem er Risikobereitschaft beweist und durch unkonventionelles Fachwissen Vertrauen seitens der Anhänger gegenüber der Vision aufbaut und zeigt, wie die Ziele erreicht werden können. Dieses Vertrauen ist überaus wichtig, denn nur wenn die Menschen dem Führer vertrauen, identifizieren sie sich mit ihm
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