Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit

Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit

Titel: Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gilbert Keith Chesterton
Vom Netzwerk:
ihre Namen; und niemand würde je erfahren, ob der sterbende Mann ihre Gesichter gesehen hatte. Jener sonderbare Ausdruck der Überraschung auf seinem Gesicht, der offenbar sein letzter Ausdruck auf Erden war, mochte durchaus dem Erkennen ihrer Gesichter entsprungen sein. Alvarez erklärte erneut energisch, daß dies nicht sein Werk sei, und wohnte der Beisetzung bei, wobei er in seiner prangenden silbernen und grünen Uniform hinter dem Sarg einherschritt in einer Art herausfordernder Hochachtung.
    Hinter der Veranda führte eine Flucht von Steinstufen einen steilen grünen Hang hinan, von einer Kaktushecke eingezäunt, und hier wurde der Sarg mühsam emporgewuchtet zu der Fläche da oben und dort vorübergehend zu Füßen des großen hageren Kruzifixes aufgebahrt, das die Straße beherrschte und den geweihten Grund bewachte. Unten in der Straße strömten Meere von Menschen zusammen, die klagten und den Rosenkranz beteten – ein Volk von Waisen, das seinen Vater verloren hatte. Trotz all dieser Symbole, die für ihn aufreizend genug waren, benahm Alvarez sich mit Zurückhaltung und Respekt; und alles wäre gut gegangen – wie Race sich selber sagte –, hätten die anderen ihn nur in Ruhe gelassen.
    Race sagte sich bitter, daß der alte Mendoza stets wie ein alter Narr ausgesehen habe und sich nun sehr offenkundig und vollständig wie ein alter Narr benahm. Entsprechend einer in einfacheren Gesellschaften üblichen Sitte hatte man den Sarg offen und das Gesicht unbedeckt gelassen und steigerte so das Pathos all dieser einfachen Leute fast bis zur Agonie. Da auch das noch mit der Tradition übereinstimmte, hätte daraus kein Harm entstehen müssen; aber irgendeine amtliche Person hatte dem den Brauch der französischen Freidenker von Reden am Grabe hinzugefügt. Mendoza begann eine Rede – eine reichlich lange Rede, und je länger sie wurde, desto tiefer sanken John Races Stimmung und Sympathien für das betroffene religiöse Ritual. Eine Liste von heiligmäßigen Eigenschaften, eindeutig von der antiquiertesten Art, wurde mit der ausschweifenden Stumpfheit eines Redners nach Tische abgespult, der nicht weiß, wie er sich wieder hinsetzen kann. Das war schon übel genug; aber Mendoza brachte auch noch die unaussprechliche Dummheit auf, seine politischen Gegner nicht nur zu tadeln, sondern sie auch noch zu verhöhnen. Binnen drei Minuten hatte er eine Szene heraufbeschworen, und noch dazu eine äußerst ungewöhnliche.
    »Mit Recht können wir fragen«, sagte er und blickte dabei wichtigtuerisch um sich, »mit Recht können wir fragen, wo solche Tugenden unter jenen gefunden werden können, die im Wahne den Glauben ihrer Väter aufgegeben haben. Nur wenn da Atheisten unter uns weilen, atheistische Führer, ja manchmal gar atheistische Herrscher, stellen wir fest, daß ihre infame Philosophie verbrecherische Früchte wie diese trägt. Wenn wir fragen, wer diesen heiligen Mann ermordet hat, werden wir sicherlich feststellen – «
    Das Afrika der Dschungel blitzte aus den Augen von Alvarez, dem bastardischen Abenteurer; und Race bildete sich ein, er könne plötzlich sehen, daß der Mann trotz allem ein Barbar war, der sich nicht bis zum Ende unter Kontrolle halten konnte; man könnte erraten, daß all seinem »erleuchteten« Transzendentalismus ein Hauch Voodoo beigemischt war. Wie auch immer: Mendoza konnte nicht fortfahren, denn Alvarez war aufgesprungen und brüllte zurück und brüllte ihn mit unendlich überlegenen Lungen nieder.
    »Wer hat ihn ermordet?« röhrte er. »Euer Gott ermordete ihn! Sein eigener Gott ermordete ihn! Eurer Lehre zufolge ermordet er alle seine treuen und törichten Diener – wie er jenen ermordet hat«, und mit einer gewalttätigen Geste wies er nicht auf den Sarg hin, sondern auf den Gekreuzigten. Dann schien er sich wieder etwas zu beherrschen und fuhr in einem immer noch ärgerlichen, aber doch mehr argumentativen Ton fort: »Ich glaube nicht daran, aber ihr tut es. Ist es nicht besser, keinen Gott zu haben als einen, der einen auf solche Weise beraubt? Ich jedenfalls fürchte mich nicht zu sagen, daß es keinen Gott gibt. Nirgendwo in diesem blinden und hirnlosen Universum gibt es eine Macht, die euer Gebet hören oder euren Freund zurückgeben kann. Auch wenn ihr den Himmel anfleht, ihn auferstehen zu lassen, wird er nicht auferstehen. Auch wenn ich den Himmel herausfordere, ihn auferstehen zu lassen, wird er nicht auferstehen. Hier und jetzt will ich den Versuch wagen – ich

Weitere Kostenlose Bücher