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Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit

Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit

Titel: Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gilbert Keith Chesterton
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er fast weinte.
    »Flambeau!« schrie er und schüttelte seinem Freund immer und immer wieder beide Hände, sehr zum Erstaunen dieses Sportsmannes, der da mit seinem Angelzeug ans Ufer kam. »Flambeau«, sagte er, »sie haben Sie also nicht getötet?«
    »Getötet!« wiederholte der Angler aus tiefstem Erstaunen. »Und warum hätte man mich töten sollen?«
    »Nur weil fast alle anderen es sind«, sagte sein Gefährte ziemlich durcheinander. »Saradine wurde ermordet, und Antonelli will gehängt werden, und seine Mutter ist in Ohnmacht gefallen, und ich für mein Teil weiß nicht, ob ich mich noch in dieser Welt befinde oder in der anderen. Aber Gott sei Dank, Sie sind immer noch derselbe.« Und er hängte sich in den Arm des verblüfften Flambeau ein.
    Als sie sich vom Landungssteg abwandten, kamen sie unter die Regenrinne des niedrigen Bambushauses und sahen durch eines der Fenster hinein, wie sie es bei ihrer ersten Ankunft getan hatten. Sie erblickten ein von Lampen hell erleuchtetes Inneres, wohl geeignet, ihren Blick zu fesseln. Der Tisch im langen Speiseraum war für das Abendessen vorbereitet gewesen, als Saradines Vernichter wie ein Donnerkeil auf die Insel gestürzt war. Und jetzt nahm das Abendessen seinen gelassenen Gang, denn Frau Anthony saß einigermaßen mürrisch am Fuß der Tafel, während Mr. Paul, der Majordomus, am Kopfende saß und aufs beste aß und trank; seine bläulichen Triefaugen quollen ihm seltsam aus dem Gesicht, sein hageres Gesicht war undurchsichtig, aber keineswegs ohne Zufriedenheit.
    Mit einer Geste kraftvoller Ungeduld rüttelte Flambeau am Fenster, riß es auf und steckte einen empörten Kopf in den lampenhellen Raum.
    »Genug!« schrie er. »Ich kann verstehen, daß Ihr einige Erfrischung braucht, aber daß Ihr Eures Herrn Essen stehlt, während er ermordet im Garten liegt – «
    »Ich habe in einem langen und freudevollen Leben viele Dinge gestohlen«, erwiderte der sonderbare alte Herr gelassen; »dieses Abendessen aber ist eines von den wenigen Dingen, die ich nicht gestohlen habe. Dieses Abendessen und dieses Haus und dieser Garten gehören zufällig mir.«
    Ein Gedanke schoß über Flambeaus Gesicht. »Sie wollen sagen«, begann er, »daß das Testament von Prinz Saradine – «
    »Ich bin Prinz Saradine«, sagte der alte Mann und knabberte an einer Salzmandel.
    Father Brown, der die Vögel im Freien beobachtete, fuhr zusammen, als sei er angeschossen, und schob sein Gesicht bleich wie eine Runkelrübe durch das Fenster.
    »Sie sind wer ?«fragte er mit schriller Stimme.
    »Paul Prinz Saradine, à vos ordres«, sagte die verehrungswürdige Person höflich und erhob sein Glas mit Sherry. »Ich lebe hier sehr ruhig, da ich ein häuslicher Typ bin; und aus Gründen der Bescheidenheit lasse ich mich Mr. Paul nennen, um mich von meinem unglücklichen Bruder Mr. Stephen zu unterscheiden. Er starb, hörte ich, kürzlich – im Garten. Es ist natürlich nicht meine Schuld, daß ihn seine Feinde bis hierher verfolgen. Es ist die Folge der bedauerlichen Unregelmäßigkeiten seines Lebens. Er war kein häuslicher Typ.«
    Er verfiel wieder in Schweigen und starrte weiter die Wand gegenüber an, unmittelbar über dem gebogenen und düsteren Haupt der Frau. Jetzt erkannten sie deutlich jene Familienähnlichkeit, die sie bei dem toten Mann heimgesucht hatte. Da begannen seine alten Schultern sich ein wenig zu heben und zu zucken, als ob er ersticke, aber sein Gesichtsausdruck änderte sich nicht.
    »Mein Gott!« schrie Flambeau nach einer Pause. »Der lacht ja!«
    »Laß uns gehen«, sagte Father Brown, der schneeweiß war. »Laß uns von diesem Haus der Hölle fortgehen. Laß uns zurück in ein ehrliches Boot gehen.«
    Bis sie von der Insel abgelegt hatten, war die Nacht auf Schilf und Strom gesunken, und sie fuhren im Dunkeln stromab und wärmten sich an zwei großen Zigarren, die hochrot glühten wie Schiffslaternen. Father Brown nahm die Zigarre aus dem Mund und sagte:
    »Ich vermute, daß Sie jetzt die ganze Geschichte erraten können? Schließlich ist es eine einfache Geschichte. Ein Mann hatte zwei Feinde. Er war ein kluger Mann. Und so erkannte er, daß zwei Feinde besser sind als einer.«
    »Das verstehe ich nicht«, sagte Flambeau.
    »Ach, das ist wirklich ganz einfach«, fuhr sein Freund fort. »Einfach, obwohl alles andere als unschuldig. Beide Saradines waren Schurken, aber der Prinz, der ältere, gehörte zu jener Sorte Schurken, die ganz nach oben aufsteigt; und der

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