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Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Titel: Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef H. Reichholf
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gediehen, wird das natürliche Vorbild überflüssig. Als gedachtes Wesen kann es sich frei entfalten in der nichtmateriellen Welt.
    Der Phönix ist ein Vogel. Als solcher machte auch er Wandlungen nach den Grundprinzipien der Evolution durch. Mit zunehmender zeitlicher Distanz vom Ursprung verlor er seine Vogelgestalt zwar nicht, wohl aber seine Greifbarkeit als wirklicher Vogel. Auch er wurde zum »weitergedachten Wesen«, das sich über die Folklore verselbständigte. Dabei büßte er seine feste Substanz ein und begann ein Eigenleben im Denken und in den Erzählungen von Menschen. Vogel blieb er dennoch. Er wurde während seiner Gestaltwandlungen weder Fisch noch Mensch. Als Fabelwesen blieb er auf die Kulturen von Orient und Okzident begrenzt, die seit Jahrtausenden miteinander in Verbindung und Austausch standen, auch wenn sein Mythos weit über die altägyptische Region ausstrahlte, aus der er ursprünglich gekommen war. Menschen, die dem Kulturraum des Mediterranen im Westen und des Orients im europäischen Südosten und seiner Fortsetzung über Indien, Zentral- und Ostasien bis in die von Hinduismus und Islam beeinflusste (heutig) indonesische Inselwelt nicht angehörten, konnten mit dem Phönix nichts anfangen. Dass Vogelgestalten aus anderen Kulturkreisen von eurozentrischen Mythologieforschern im Sinne der ihnen vertrauten Fabelwesen (um)gedeutet wurden, steht zu dieser Feststellung nicht im Widerspruch. Erklärt wird nahezu unweigerlich aus dem eigenen Gesichtskreis heraus.
    Vergleichsweise entstanden bei »Seevölkern« Vorstellungen von Ungeheuern in Seen und Meeren, wie vom Leviathan, Moby Dick der Walfängerzeit oder auch von »Nessie« bei den Landratten unserer auf Dinosaurier so erpichten Zeit. Jeden großen Lebensbereich der Erde statteten die Menschen mit Fabeltieren aus, Luft und Gewässer, Wälder und Berge, auch ihre Gemeinschaft selbst mit den herumgeisternden, nicht zur Ruhe kommenden Menschen. Erzählen und Weitererzählen reichen aus, um aus Mücken, wie es heißt, Elefanten zu machen. Auch in unserer Zeit trifft es keineswegs nur in der banalen Weise des Sprichwortes zu, dass aus bedeutungslos Winzigem durch Hörensagen und Ausdeutung Riesenhaftes entsteht. Inzwischen können Insekten oder Spinnen täuschend lebensecht auf Elefantengröße gebracht werden. Die bloße Vergrößerung zum Ungeheuer ist ein einträgliches Geschäft für die Erzeuger dieser ›Fiction‹ geworden. Bedient wird, wie in alten Zeiten, die Neigung der Menschen zum Unwirklichen, zum Irrealen. Vom Anbeginn seiner Entstehung schöpft der Mythos immer wieder neue Kraft zur Ausgestaltung. Es wäre im Hinblick auf die bereits »verarbeiteten« Tiere, wie Löwen und Einhörner, Adler und Phönix, nachgerade verwunderlich, könnte der Mythos nicht auch aus Kriechtieren, aus Reptilien, Fabelwesen schaffen. Indianischen Mythen zufolge ist es eine gigantische Schildkröte, die das Weltengebäude trägt. Schlangen gingen in vielfältigsten Formen in mythologische Vorstellungen ein. Sie zu deuten gehört zu den besonders attraktiven Themen der Psychoanalyse. Schlangenmythologien reichen von der Weltenschlange, die alles umgibt, über das Symbol des Uroboros (wörtlich griechisch: Schwanzverschlinger), der sich selbst in den Schwanz beißt und verschlingt, bis zur Schlange als Symbol des Teufels, der im Paradies den Anstoß zum Sündenfall gibt, und der sehr direkten Verknüpfung mit dem Sexuellen. Am Asklepios (Äskulap)-Stab diente die Schlange dazu, den Berufsstand der Ärzte zu kennzeichnen. Und wenn in unserer Zeit – aus vergleichend anatomischen Gründen – Hirnforscher vom Reptiliengehirn als Bauteil unseres Menschenhirns sprechen, nähren sie ungewollt die Phantasien vom Reptilienhaften im Menschen.
    All das gibt besten Nährboden ab für das fabelhafteste aller Fabelwesen: für den Drachen. Es muss ihn geradezu gegeben haben, weil nicht einzusehen wäre, dass unserem Hang zum Verzaubern der Wirklichkeit kein Über-Reptil entsprungen sein sollte. Quetzalcoatl, die Federschlange der Alten Azteken, wäre (uns) zu wenig. Für einen kraftvollen Mythos ist sie fast zu niedlich. Die Reptilien geben mehr her, zumindest seit Knochen ihrer ausgestorbenen Riesenverwandtschaft, den Dinosauriern, gefunden worden sind. Es müsste daher einfach sein, das natürliche Vorbild des Drachen ausfindig zu machen, selbst wenn es deren mehrere gegeben haben sollte. Machen wir uns also auf die Suche danach.

Drachenechsen
    Vorbild für

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