Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)
gedacht werden. Sie gibt die Nordrichtung an. Eindeutig. Wanderungen spielten – und spielen immer noch – in den Wüsten und Halbwüsten des Vorderen Orients in der Kühle der Nacht eine große Rolle. Die Hitze des Tages zwang zur Rast. Über die Sternbilder ließ sich der Gang der Nacht zeitlich erfassen; gefühlsmäßig wenigstens, bis sich irgendwo im Osten der erste Schimmer des Morgenlichtes zeigte. Wir, die wir Kalender haben und zur Orientierung nicht mehr zum Himmel aufschauen, haben längst das Gefühl dafür verloren, die Zeit während der Nacht oder im Lauf des Jahres in der ursprünglichen Weise zu empfinden. Zurückgeblieben sind die Sternbilder, deren einstige Bedeutung so gut wie ganz verschwunden ist und einer anderen, einer mythischen, Platz gemacht hat. Altes, einst Lebenswichtiges entschwand. Es wurde ersetzt durch anderes, an das man glauben kann oder auch nicht.
Der schöne, böse und gute Drache
Fabelwesen aus jeder Tiergruppe?
Unter den Fabeltieren nimmt der Drache eine Sonderstellung ein. Kein anderes taucht in den Mythologien und Fabeln so vielfältig, doch allen Variationen zum Trotz so einheitlich auf wie der Drache. Keines erreicht auch nur annähernd den Grad seiner Bekanntheit, vor allem was sein Aussehen betrifft. Drachen hatten mit Prinzessinnen und Helden zu tun, mit Schätzen und Zauberkräften. Sie spien Feuer, tyrannisierten ganze Landstriche und verbreiteten Angst und Schrecken. Sie lebten in tiefen Wäldern oder in Höhlen an Bergen, in denen sie rumorten wie Donnergrollen oder Erdbeben. Manche flogen auch durch die Luft.
Die Deutung des Drachen wird zur größten Herausforderung für die Brauchbarkeit der hier angewandten, historisch-biologischen Analyse. Sie sollte sich auch am Drachen bewähren. Das Ergebnis wird zeigen, inwieweit sie in Konflikt gerät mit den geisteswissenschaftlichen und historischen Betrachtungen oder aber mit diesen übereinstimmt. Da alle einzelnen Schritte der Vorgehensweise für sich genommen kritisch überprüft und mit gesicherten Befunden oder besseren Argumenten widerlegt werden können, bleibt meine Deutung der Drachen weiteren Bearbeitungen, Verbesserungen oder Abänderungen offen. Von folgenden Annahmen gehe ich aus:
Auch für den Drachen hatte es ein wirkliches Vorbild gegeben, das seit langem aber (so) nicht mehr existiert.
Drachen müssen wichtig gewesen sein im Leben der Menschen jener »Drachenzeiten«.
Die grundlegenden Eigenschaften der Drachen sollten Aufschluss über ihre Herkunft geben, nicht die späteren Überformungen, die zustande kamen als sie längst schon zu Fabelwesen gemacht worden waren.
Betrachten wir zum Einstieg in das konkrete Vorgehen noch einmal kurz und zusammenfassend die beiden anderen Leitarten der Fabeltiere, das Einhorn und den Phönix. Das Einhorn ist ein Säugetier. Es war eines und blieb ein solches über all seine Abänderungen, die im Lauf der Zeiten zustande kamen. Das Einhorn ließ sich an seinen Merkmalen diagnostizieren. Auch die Versionen unserer Zeit änderten nichts an seinem Status als vierfüßiges Säugetier von pferdeähnlicher Gestalt mit dem bezeichnenden Horn auf der Stirn, mochte es auch noch so von Licht durchflutet und ätherisch erscheinen. Es galoppiert oder stolziert, hebt den Schweif und behält das Geschehen im Blick mit Augen, die mädchenhaft vergrößerte Wimpern tragen. So durchläuft die Gestalt des Einhorns Variationen, die den jeweiligen »Umweltverhältnissen« entsprechen. Auf diese Weise kommen Metamorphosen zustande. Gestaltet werden diese von den in ihre Zeiten eingebundenen Gesellschaften. Für Biologen liegen die Ähnlichkeiten solcher (kultur)historischer Vorgänge mit evolutionären Prozessen auf der Hand: Das ursprüngliche, in den Beschreibungen sehr reale Einhorn mutiert nach und nach zu seinen neuen Erscheinungsformen, ohne dabei die Grundform zu verlassen. Wie in einer evolutionsbiologischen Analyse heutiger Tierarten kann man die Gestalten des Einhorns auf ihren Ursprung zurückverfolgen. Die Kulturgeschichte gibt nicht nur hilfreiche Hinweise, sondern auch die Begründungen dafür, welche Eigenschaften des Fabeltieres zu welchen Zeiten für die Menschen von besonderer Bedeutung gewesen waren. Den selektierenden Wirkungen der Umwelt vergleichbar, verändern sie Form und Inhalt des nicht mehr real existierenden Tieres. Losgelöst von der Hülle der lebendigen Tierform, erreicht es neue Freiheiten in Deutung und Bedeutung. Ist dieser Prozess weit genug
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