Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)
ungünstiger Sommerwitterung. In den Alpen wuchsen die Gletscher, bedrohten die Dörfer in den Tälern und es gab verheerende Überschwemmungen. Eine der größten suchte 1598 weite Teile Europas heim. Sie ist am Inn, dem Fluss, an dem ich aufwuchs, an Gebäuden am Ufer als das höchste historische Hochwasser verzeichnet. Große Seen, wie der Bodensee, froren in jener Zeit wiederholt komplett zu. Von 1400 bis 1620 geschah dies 16-mal, in der gleich langen Zeitspanne seit 1790 hingegen nur dreimal, davon zweimal noch im 19. Jahrhundert. Vorausgegangen war der Kleinen Eiszeit das klimatisch begünstigte Hochmittelalter. Es währte etwa von 800 bis 1300, also rund ein halbes Jahrtausend lang. Getreideanbau und Weinerzeugung florierten. Die um 1350 einsetzende Kleine Eiszeit drängte Wein und Weizen in Mittel- und Nordwesteuropa auf die klimatisch günstigsten Regionen zurück. Der größte Teil Englands wurde Schafland. Shakespeare lebte in dieser Zeit ausgedehnter Weidewirtschaft mit Schafen.
Auf den zu Heiden gewordenen Weiden sang dort eine andere als die uns geläufige Lerche. Ihr Name Heidelerche drückt das aus. »Lullende Baumlerche« heißt sie übersetzt mit ihrem wissenschaftlichen Namen Lullula arborea . Wir aber meinen mit ›Lerche‹ die Feldlerche ( Alauda arvensis ). Sie ist die uns geläufige Künderin des Morgens. Mit dem Rückgang der Weidewirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert wurde die Heidelerche so selten, dass gegenwärtig nur noch wenige ihren Gesang kennen. Die in Mittel- und Westeuropa vorkommenden Heidelerchen machen nur noch etwa ein Hundertstel des Feldlerchenbestandes aus. Die Heidelerche verschwand entsprechend nach und nach aus der Folklore. Die Feldlerche nahm ihren Platz ein. Nicht das jubilierende Aufsteigen der Feldlerche, sondern das Lied der Heidelerche passt zum Gesang der Nachtigall. Es enthält eine markante ›lü, lü, lü…‹-Strophe, die an das Schluchzen der Nachtigall erinnert. Zu Shakespeares Zeit dürfte die Heidelerche in England eine weitverbreitete Lerche gewesen sein. Nachgewiesen wurde sie dort seit dem 15. Jahrhundert, also seit der Zeit der Klimaverschlechterung hin zur Kleinen Eiszeit. ›Woodlark‹ heißt sie auf Englisch, die Feldlerche aber ›Skylark‹. Welche Lerche Shakespeare meinte, geht aus Romeo und Julia nicht hervor.
Die Heidelerche kommt gegenwärtig in nur noch geringen Restbeständen in Südengland vor. Das Gelände um Stratford-upon-Avon, dem Heimatort von William Shakespeare, war sicherlich für Heidelerchen geeignet. Die Nachtigall ist in Südengland erheblich weiter verbreitet. Auch in unserer Zeit ist sie das noch. Doch wo Feldlerchen singen, sind Nachtigallen kaum zu hören. Ihre Lebensräume sind zu verschieden. Heidelerchen und Nachtigallen passen besser zusammen. Shakespeare hätte keinen Grund gehabt zu präzisieren, wenn doch in seiner Zeit die Heidelerchen häufig und bekannt genug waren. Sie singen in der späten Nacht und am frühen Morgen, wenn die Nachtigallen schweigen. Beide passen bestens zu den Gegebenheiten des ausgehenden 16. Jahrhunderts. Die Zeiten haben sich inzwischen aber stark geändert. Was vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden seine Richtigkeit hatte, mag uns heute unverständlich vorkommen. Allzu schnell verweisen wir es ins Reich der Mythen und Fabeln. Zurück bleiben nette Geschichten, die sich erzählen lassen wie Märchen. Sie können mehr enthalten, viel mehr. Shakespeares ›Lerche‹ ist ein Beispiel dafür. Meine Deutung mag falsch sein. Vielleicht hatte sich Shakespeare wirklich nicht darum gekümmert, ob Nachtigall und (Feld)Lerche zusammenpassen. Ihre Symbolhaftigkeit für die frühe und die späte Nacht wirkt auch so. Aber er hatte beide Vögel konkret genug benannt und nicht einfach unbestimmte Eulenrufe der Nacht und Vogelstimmen des dämmernden Morgens als Metaphern benutzt. Könnte man ohne die genaue Benennung, welche Arten gemeint waren, Nachtigall und Lerche heute aus dem Text erschließen? An der Qualität von Romeo und Julia würden sachliche Unstimmigkeiten so gut wie nichts ändern.
Nachtigall und Lerche stehen jedoch nicht isoliert, auch wenn das zunächst bei Shakespeare so aussehen mag. Die Verhältnisse der Kleinen Eiszeit wirkten ganz massiv auf das Leben der Menschen ein. Märchen zum bösen Wolf wären wohl nicht entstanden, hätte es die Zeiten des Hungers in den langen harten Wintern der Kleinen Eiszeit nicht gegeben. In der viel wärmeren, klimatisch günstigeren Zeit des
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