Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)
gegeben hat, ein östliches und ein westliches. Das westliche liegt irgendwo in Nordsibirien, das östliche in Ostsibirien. Die westlichen Angehörigen dieser Vogelart ließen sich bis ins Land des Bernsteins verfolgen, wo sich ihre Spuren verloren. Wenn sie inzwischen nicht bereits ganz ausgestorben sind, gibt es ihre letzten Überwinterungsplätze noch im Iran. In neuerer Zeit suchten auch wenige Individuen dieser Art das Vogelschutzgebiet von Bharatpur in Nordindien auf. Dort sah ich einige von ihnen in den 1980er Jahren. Kenner wissen längst, welcher Vogel gemeint ist: der Schneekranich ( Grus leucogeranus ). In der Antike war dieser Kranich zwar sicherlich bei weitem nicht so selten wie gegenwärtig, aber auch nicht häufig. Wenn so ein Kranich im von Wasserpflanzen durchsetzten Flachwasser steht, das ihm fast bis zum Bauch reicht, kann er einem Schwan durchaus sehr ähnlich sehen, der den Hals nach oben reckt. Abgesehen von den kranichtypischen langen Beinen fällt der Unterschied gar nicht so stark aus. Im befiederten Körper entsprechen beide einander, ebenso in der Halslänge. Das rote Gesicht ist ähnlich auffällig wie das Rot im Schnabel des Höckerschwans, während dessen schwarze Spitze wie auch der längere schwärzliche Schnabel des Schneekranichs auf größere Distanz nicht so leicht zu erkennen sind. Es gibt keinen Unterschied in Färbung und Zeichnung der Geschlechter; männlich kann zu männlich passen und damit der Gleichgeschlechtlichkeit entsprechen. Als Kraniche fliegen diese Vögel, anders als die schweren Schwäne, sehr hoch. Um zu den Überwinterungsplätzen im Iran oder ins nordindische Tal des Ganges zu gelangen, müssen sie hohe Gebirgsketten von Sibirien her überqueren. Der Höhenflug schafft die Verbindung mit der Sonne, mit Phaeton. Trifft ihr Gefieder das Licht der untergehenden Sonne, glüht es auf als ob es in Flammen stünde. Im Donaudelta gibt es die dazu passende geographische Situation mit dem Sonnenuntergang über dem Delta. Die Sonne geht dort über dem Meer auf und über dem Land unter. Zu den an Wasserpflanzen reichen Lagunen an der Mündung des Eridanos – sind in diesem Wort vielleicht der griechische Wortstamm eri- = wollig, was auch ›mit Pflanzen bedeckt‹ meinen kann, und die indogermanische Wurzel danu = (großer) Fluss verbunden? – können Schneekraniche gelegentlich zum Überwintern gekommen sein. Mit aufsteigender Sonne im Frühjahr zogen sie nach Sibirien davon und kamen vielleicht, wie man das von ihrem Überwinterungsplatz im indischen Bharatpur kennt, lange Zeit nicht wieder. Mit erregtem Flügelschlagen gaben sie vor ihrem Verschwinden den ›Schwanengesang‹ nach Kranichart von sich; weithin vernehmbar und klagend. Danach waren sie fort, entschwunden über dem im Meer der Nachtrichtung verschwindenden Eridanos.
Die in großen Scharen der im Herbst von Norden her einfliegenden, grauen Kraniche ( Grus grus ) kannte man in der hellenistischen Zeit sehr gut. Sie waren wie die kleinen Jungfernkraniche ( Anthropoides virgo ) auch den Alten Ägyptern vertraut. Kraniche wurden häufig auf Wandmalereien dargestellt und in griechische Epen mit einbezogen. Es gab die Sage vom Heer der Kranichkrieger, die gegen ›Zwerge‹ kämpften. Friedrich Schillers Ballade Die Kraniche des Ibykus von 1797 greift das historische Thema auf, dass sich Kraniche (fast) wie Menschen verhalten. Deuten wir also den Schneekranich als das eigentliche Vorbild für den Kyknos . Dann ergibt alles einen Sinn; sogar seine spätere Wandlung zum Schwan, dessen Missdeutung in der Auslegung der Sage von Keyx und Alkyone als Eisvogel und auch, dass sein Name nichts mit Eis zu tun hat. Die Vermischung kam über die langen Zeiträume zustande. Als sich der Mythos gefestigt hatte, interessierte der Ursprung nicht mehr; wie bei den Namen, hatten sie sich gut genug eingebürgert, bedurfte ihre Bedeutung keiner Erklärung mehr. Der Eisvogel ist der Eisvogel, mit oder ohne Eis; die Fledermaus die Fledermaus, ob Maus oder nicht. Es liegt in der Natur der menschlichen Sprachen, dass für eine Gegebenheit, ein Tier, eine Pflanze oder auch für einen Menschen beliebige Worte verwendet werden können. Es bedarf lediglich der Konvention innerhalb der Anwender einer bestimmten Sprache, dass dieses oder jenes so genannt wird. Heutzutage sagt so gut wie kein Vor- und Familienname mehr etwas darüber, wie der Mensch ist, der diesen Namen trägt. Die Mythologisierung drückt besonders augenscheinlich
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