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Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Titel: Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef H. Reichholf
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aus, wie Vorgänge mit der Zeit umgeformt und Traditionen gebildet werden, aber sie ist kein eigenständiger Prozess. Sie gehört zum allgemeinen Spektrum der Weitergabe von Informationen über die Zeit. Das macht sie zu einem geschichtlichen Vorgang mit großen Ähnlichkeiten zur Naturgeschichte. Wie in dieser die Änderungen der Lebensbedingungen eine fundamentale Rolle für die weiteren Entwicklungen spielen, sind es in der Kulturgeschichte Änderungen in den politischen und sozialen Verhältnissen. Am Anfang steht ein Ereignis, das wichtig genug war, es weiterzuerzählen. Neue Ereignisse kommen hinzu. Sie nehmen Einfluss auf den Ursprungsmythos, deuten diesen um oder fügen ihn ein in einen neuen Kontext. Manche Mythen gewinnen auf diese Weise an Bedeutung, andere verschwinden. Man vergisst sie. Einige werden plötzlich wieder aufgegriffen und aufgebauscht, weil die Zeitströmung dazu passt. Die Renaissance war eine solche Phase. Hätte es sie nicht gegeben, gäbe es die meisten der alten Mythen nicht mehr. Die frühneuzeitlichen Märchen hätten sie ersetzt. Offenbar haben die Menschen ein Bedürfnis nach Fabeln, auch nach ganz banalen.

Banales, Rätselhaftes und Unmögliches
    »Es war die Nachtigall und nicht die Lerche«
    »Du willst schon fort? Es ist noch längst nicht Tag:/Es war die Nachtigall und nicht die Lerche,/Die deinem Ohr ins bange Innre drang;/Sie singt bei Nacht auf dem Granatbaum dort:/Geliebter glaub’s es war die Nachtigall«, sagt Julia im 3. Akt, 5. Szene, zu Romeo, um ihn noch zum Bleiben zu bewegen. Doch er meint: »Die Lerche war’s, die Tagverkünderin!« Shakespeares »It was the nightingale and not the lark« gehört zu den bekanntesten Sätzen der Weltliteratur. Die Tragödie von Romeo und Julia basiert auf einer italienischen Volkserzählung aus dem Mittelalter. 1545 hatte sie Bandello in eine Novelle gefasst. Eine französische Bearbeitung davon regte den Engländer Arthur Brooke zu einem Gedicht an. Dieses inspirierte William Shakespeare zu Romeo und Julia . Nach einer Erstfassung 1592 legte er die Tragödie 1596 in überarbeiteter Form vor. So etwa die Kurzfassung, die auch ich im Schulunterricht zu lernen hatte. Die historischen Daten entschwanden mir schnell aus dem Gedächtnis. Zurück blieb der ominöse Satz über die Nachtigall und die Lerche. Wie kann man ihre Gesänge verwechseln? Das fragte ich mich schon als junger Ornithologe. Und das fragte ich auch meine Lehrerin. Ihrer Antwort, dass das doch in so einem Text keine Rolle spiele, hielt ich entgegen, Nachtigall und Lerche singen so verschieden, dass man sie gar nicht verwechseln kann. Die Lehrerin meinte, vermutlich in einer Mischung von Unverständnis und Nachsicht mit mir, das sei eben Literatur und kein vogelkundlicher Text. Aber sie fügte hinzu, darüber nicht nachgedacht zu haben. Schließlich gehe es ja in Romeo und Julia um die Tragik der Liebe. Diese behandelte Shakespeare so realistisch, dass die Menschen davon ergriffen werden. Mit dichterischer Freiheit bediente er sich lediglich der Umstände. Der Kern blieb echt und zutiefst menschlich. Gerade deswegen empfand ich es umso befremdlicher, dass die über Leben und Tod entscheidende Frage, ob es noch Nacht ist oder das Lerchenlied den Morgen ankündigt, mit zwei so grundverschiedenen Vogelgesängen verknüpft wurde. Pferd und Kuh sähen einander noch ähnlicher als sich Nachtigall und Lerche anhören. Die voll tönenden »Schläge« der Nachtigall und ihr unvergleichliches Schluchzen kann man wirklich nicht mit den hohen Trillern der emporsteigenden Lerche verwechseln, sofern man überhaupt noch etwas hört. Liebe macht blind, sagt der Volksmund; blind vielleicht, aber nicht taub. Ich beugte mich der Meinung meiner Lehrerin, das Shakespeare-Zitat nicht so eng zu sehen, sondern »metaphorisch« zu betrachten. Die Nachtigall steht für Abend und (frühe) Nacht, die Lerche für den Morgen. Ich hätte Shakespeare dennoch eine treffendere Alternative zugetraut. Wäre sie nötig gewesen, hätte er sicher eine solche gefunden. So urteilte ich in jugendlicher Wertschätzung seines Werks.
    Eine bessere Lösung war nicht nötig. Als ich mich Jahrzehnte später mit den historischen Verhältnissen befasste, die zu Shakespeares Zeit geherrscht hatten, fand ich eine für mich viel überzeugendere Erklärung. William Shakespeare lebte von 1564 bis 1616. Damals herrschte die sogenannte Kleine Eiszeit mit bitterkalten Wintern und oftmals für den Getreideanbau sehr

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