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Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Titel: Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef H. Reichholf
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verbunden. Lange schon gibt es keine richtig wild lebenden Rentiere mehr im Norden Europas und Asiens. Alle halbwilden Rener bilden zusammen mit diesen Nordvölkern eine Lebensgemeinschaft. Beide Partner hängen voneinander ab. Die Menschen jedoch mehr von den Rentieren als umgekehrt. Ohne die nordischen Hirsche, bei denen auch die weiblichen Tiere Geweihe tragen, hätten diese Nordvölker nicht überleben können.
    Vom Ren nutzen sie alles: Das Fleisch, die Milch, die Haut und die Geweihe, die bei den Hirschen sehr ausladend entwickelt sind. Mit den nach vorn gerichteten, schaufelartigen Teilen des Geweihs, die in der Sprache der Jäger Augsprossen genannt werden, schaufeln sie bei der Nahrungssuche den Schnee weg. Das nordamerikanisch-indianische Wort für die dortigen Rentiere, Karibu, bezieht sich direkt auf diese Eigenheit. Unter dem Schnee gibt es meist nur Knospen von Kriechweiden und Flechten als Nahrung, die deshalb Rentierflechten genannt werden. Sie sind sehr reich an Mineralstoffen. Die Rentiere kommen gut mit dieser Nahrung zurecht. Sie entwickeln ein wollig-wärmendes Fell. Dieses eignet sich bestens zur Fertigung von Kleidern, die vor der Winterkälte schützen. Im Sommer hält das dichte Fell die in ungeheueren Massen anfliegenden Stechmücken ab, die das Leben in der Tundra zur Hölle machen können. Um ihre dürftige Nahrung in ausreichenden Mengen zu bekommen, müssen die Rentiere nahezu ununterbrochen unterwegs sein. Früher nahm man an, ihr Name würde sich von diesem Herumrennen ableiten. Diese Deutung stimmt jedoch höchstwahrscheinlich nicht.
    Mit Rentieren zu leben, zwingt auch die Menschen zu einer nomadischen Lebensführung. Werden diese Tiere eingepfercht gehalten, macht sie das anfällig für Krankheiten und Hufschäden.
    Bei der Wanderung verursachen die Rentiere ein eigenartig knackendes Geräusch mit den Knöcheln. Wozu das gut ist, darüber ist viel spekuliert worden. Vielleicht hilft es den Nachfolgenden, in der dunklen, tage- oder wochenlang andauernden Winternacht den Anschluss an die Herde nicht zu verlieren. Sehr nützlich ist das Rentier also zweifellos. Doch weshalb sollte ausgerechnet dieses Tier und ein mit Schlitten fahrender Nomade des Hohen Nordens zur Symbolgestalt von Weihnachten werden? Zu den Samen/Lappen kam das Christentum ja ziemlich spät; aus mitteleuropäischer Sicht sogar ganz zuletzt. Die Weihnacht sollte unter den südlichen Bedingungen des Heiligen Landes und nicht bei arktischer Kälte und drückenden Schneemassen stattfinden, auch wenn letztere umso beliebter geworden sind, je weiter sich das aus der Rentierwelt gekommene Skifahren in der Bevölkerung verbreitete. Den entscheidenden Aufschluss vermittelt der Name des Weihnachtsmannes: Joulu-pukki – Jul(fest)-mann.
    Das Rentier war also mit dem nordischen Julfest verbunden. Mit christlicher Weihnacht hatte es gar nichts zu tun. Weihnachtsmann und Rentier gehören zu den Geschenken und zur Stimmung, nicht zu Kirchgang und Besinnung. Es ist, wie andere Teile der Weihnachtsbräuche auch, erst nachträglich mit dem christlichen Fest verbunden worden – so gut oder so schlecht das eben ging. Das uralte Julfest hatte tatsächlich eine ganz andere Bedeutung, die sich als Sitte über die riesigen Weiten des eurasiatischen Nordens ausdehnte. Sibirische Völkerschaften verehrten den sogenannten Großen Rentiergeist. Mit einem polnischen Kriegsgefangenen kam 1658, also mitten in der kältesten Phase der Kleinen Eiszeit, die Kunde davon nach Europa. Er berichtete, was es mit diesem »Geist« auf sich hat. Zum Julfest, das meistens zur finstersten Jahreszeit im Hohen Norden gefeiert wurde, nämlich zur Wintersonnenwende, wenn es keinen Tag mehr gab, sondern nur noch Nacht, berauschten sich Schamanen mit dem Gift von Fliegenpilzen. Dabei nahmen sie Kontakt mit dem Großen Rentiergeist auf. Aus getrockneten Fliegenpilzen brauten sie den Sud. In der richtigen Konzentration der halluzigenen Giftstoffe dieses Pilzes genossen, entstanden euphorische Rauschzustände. Sie waren begleitet von der Illusion zu fliegen. Wer die rechte Dosierung des Pilzgiftes kannte, die die Sensation des Fliegens erzeugte, konnte den Stammesgenossen die schönsten Zustände in der finstersten Zeit bescheren. Damit behalfen sich die Nordländer über die schier endlose, so melancholisch stimmende Finsternis der Winternacht hinweg.
    Der polnische Soldat berichtete, dass die Teilnehmer an den Julfesten schlimmer betrunken waren als mit Wodka und

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