Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)
dass das für sie das schönste Bankett überhaupt gewesen sei. Problematisch, höchst problematisch war und blieb jedoch die Dosierung. Ein bisschen zu viel konnte schwere Schäden oder gar den Tod bedeuten. Zu wenig erzeugte nicht die richtige Stimmung. Die Lösung brachten die Rentiere. Vielleicht waren sie es ursprünglich sogar gewesen, die die Menschen auf die Wirkung der Fliegenpilze aufmerksam machten. Denn Rentiere verzehren diese Pilze gern. Wie sie es schaffen, sich dabei nicht zu vergiften, ist wohl immer noch ihr Geheimnis. Was sie dann aber von sich geben, enthält die richtige und auch ungefährliche Dosis für den angestrebten Drogenrausch: Urin. Mit diesem brachten die Rentiere die »schönsten Geschenke« in die einsame Wildnis. Sie bescherten den Menschen, die sie verehrten, das Gefühl des Fliegens. Die Bezeichnung Fliegen-Pilz bezieht sich auf diese Wirkung. Und es ist der Fliegenpilz, dem auch die rot-weiße Kleidung des Jul-Mannes, des Weihnachtsmannes, zuzuschreiben ist. Wir kennen den Zusammenhang nicht mehr, obgleich er noch im Kinderlied vom Männlein enthalten ist, das im Walde steht, ganz still und stumm, und das hat von lauter Purpur ein Mäntlein um. Es tanzte als Rumpelstilzchen auf einem Bein, weil der Pilz eben keine zwei »Füße« hat. Auch ›Rotkäppchen‹ symbolisiert den Fliegenpilz. Noch immer ist er auf vielen nostalgischen Weihnachtskarten vertreten. Fliegenpilze gehören zum herkömmlichen Schmuck der Christbäume. Die weißen Flecken auf dem roten Hut lassen sich leicht in Schneeflocken umdeuten oder als solche tarnen, ganz nach Belieben. Doch dieser Pilz wächst gar nicht zur Winterszeit, wenn es schneit. Aber genossen wurde er in jener Zeit, die später, viel später, die Weihnachtszeit geworden war. Das Rentier diente seit alten Zeiten als Vermittler zu den psychedelischen Höhenflügen. Inzwischen bringt es als Rudi mit der roten Nase andere, auf ihre Weise jedoch auch erhebende Geschenke. Mag sein, dass die rote Nase nur auf die Kälte hinweisen sollte. Wahrscheinlicher ist aber die alte Verbindung mit dem Fliegenpilz oder die jüngere mit dem Schnaps, der sich bei Menschen, die zu viel davon genossen haben, peinlicherweise in roten Nasen ausdrückt. Wie auch immer, der Kaufrausch von heute spiegelt sich als Ersatzrausch für die Julfeste früherer, unchristlicher Jahrhunderte. Das Rentier verwandelte sich über diese Doppeldeutigkeit zum Weihnachts-Tier. Sein Lenker schwebt nicht mehr zum Rauchabzug der Lappenzelte hinaus wie der alte Schamane, um oben den Kontakt mit den Geistern aufzunehmen und Geschenke mit zurückzubringen. Längst kommt er ganz zivilisiert mit Lichtreklame und der geradezu fordernden Angabe, wo die Geschenke zu finden und zu kaufen sind. So ist das Julfest zum Geschenkefest für Kinder geworden. Nichts mehr außer seiner merkwürdigen, für den Anlass der Geburt Christi nicht gerade passenden Kleidung weist auf den früheren Zusammenhang mit dem Drogenrausch hin. Das ›fliegende Rentier‹ und der Weihnachtsmann sind ›domestiziert‹ worden, wie auch ›Knecht Ruprecht‹, die Perchten und andere heidnische Bräuche aus der lichtarmen Zeit des Mittwinters, die das Christentum vereinnahmt hatte. Mit der Umlenkung auf die Kinder wurde ihnen das Archaische genommen und der Zivilisation unterworfen.
Wolpertinger und anderer Quatsch
Als Kind, ich war neun oder zehn Jahre alt, kam ich in meiner niederbayerischen Heimat zu einem Tierpräparator. Er lebte in einem abgelegenen Weiler auf einem Hügel, der Spielberg hieß. Warum, das wusste niemand mehr. Es wurde nicht gespielt auf dieser abgelegenen kleinen Bergkuppe im Tertiärhügelland. Sie trug, wie fast alle Hügel dieser Region zwischen den Voralpen und der Donau, wie eine Kappe ein Wäldchen. Am Rand dieses Wäldchens stand das Haus, in dem der Präparator lebte und präparierte.
Was für eine Wunderwelt tat sich da für mich auf! Ein Fuchs sah aus, als ob er geradewegs auf mich zulaufen würde. Ein Dachs schaute auf das Brett hinab, auf das er montiert war. So kam sein schwarz-weiß gestreiftes Gesicht eindrucksvoll zur Wirkung. Bussarde und Habichte schwebten mit ausgebreiteten Flügeln von der Decke oder schienen gerade abzufliegen von dem Aststück, auf dem sie saßen. Ganze Rehbockköpfe gab es und balzende Fasanenhähne. Geweihe hingen überall an den Wänden. Kleinvögel saßen auf Ästchen: Rote Gimpel und noch rötere Kreuzschnäbel, bunte Meisen und schwarze Amseln mit gelbem
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