Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)
Schnabel. Diese Vögel waren aber viel zu teuer. Ich erhielt ein Eichhörnchen. Es saß mit S-förmig angehobenem Schwanz auf einem bemoosten Ast und hielt in den Händen einen Kiefernzapfen. Daheim kam es im Hauseingang an die Wand.
Unter den naturgetreuen Tierpräparaten sah ich auch Wolpertinger. Hasen hatten kleine Rehgehörne auf den Kopf gesetzt bekommen. Ein Eichhörnchenschwanz war ihnen angefügt und aus dem Mund ragten lange, spitze Zähne, die wahrscheinlich einem Fuchsgebiss entnommen worden waren. Manche dieser skurrilen Gebilde trugen am Rücken eine Reihe von Federn. Andere hatten gar einen Federschwanz bekommen. Der Präparator war sehr nett. Offenbar bemerkte er meine Begeisterung für Tiere. Daher erklärte er mir, dass er die Wolpertinger aus Abfällen zusammensetzt. Solche gäbe es immer wieder, weil ihm die Jäger manche Tiere zu spät bringen. Dann fallen die Federn schon aus, oder die Haut ist schlecht geworden, weil sie zu faulen begonnen hat. Was noch zu etwas taugt, wird zu Wolpertingern verarbeitet. Solche zusammengesetzten Tiere mögen die Leute. Sogar Jäger lassen sich welche machen, um ihre Gäste zu beeindrucken. Die meisten Menschen haben ja keine Ahnung von den Tieren, meinte er. Man kann ihnen alles vormachen. Die Wolpertinger machen Spaß. Dass es sie nicht gibt, macht nichts. Je verrückter, desto begehrter seien sie. Mir gefielen die lebensnahen Präparate. Von Wolpertingern hielt ich nichts.
Etwa ein Jahrzehnt später sah ich in München, dass Wolpertinger tatsächlich in Souvenirgeschäften für »Bayrisches« verkauft werden. Nicht selten nahmen sie sogar zentrale Positionen in den Schaufenstern ein. Weißblaue Maßkrüge, Schnupftabakdosen, Porzellanfiguren tanzender Paare, er in Lederhosen, sie im Dirndl, und allerlei anderer Tand umgaben den gehörnten Hasen mit Eichhörnchenschwanz. Manche Wolpertinger hatten Entenflügel verpasst bekommen. Andere trugen anstatt der kleinen Rehgeweihe Hühnerfedern auf dem Kopf. Mir als Bayer waren solche ›Bavarica‹ schlicht peinlich. Fassungslos machten mich die Preise, die dafür verlangt und offenbar auch bezahlt wurden. Im Alter von knapp 20 Jahren, gerade mit dem Biologiestudium beginnend, wandte ich mich davon mit Grausen ab.
Gewissermaßen auf »höherem Niveau«, aber in vergleichbarer Weise wie ein Wolpertinger gemacht, entstand um 1912 der ›Piltdown Mensch‹. In einer Kiesgrube nahe der Ortschaft Piltdown in Südostengland waren Stücke eines Menschenschädels mit Unterkieferknochen gefunden worden, die als »früher Mensch« angesehen und zu Ehren des britischen Amateurarchäologen, Rechtsanwalts Charles Dawson, sogar mit einem eigenen Namen Eoanthropus dawsoni wissenschaftlich benannt wurden. Experten hatten den Fund auf ein Alter von 500000 Jahren geschätzt. Erst 1953 wurde der Piltdown Mensch als Fälschung entlarvt. Es handelte sich um einen Menschenschädel aus der Zeit des Mittelalters, der mit einem etwa 500 Jahre alten Unterkiefer eines Orang-Utans und Schimpansenzähnen äußerst geschickt zusammengefügt worden war. Eine Behandlung der Knochen mit Eisensalzen und Kaliumdichromat täuschte das hohe Alter vor. Die Zähne hatte der Fälscher außerordentlich gekonnt passend geschliffen. Die Schleifspuren ließen sich nur mit guten Mikroskopen erkennen. Wer die Fälschung machte und warum, ist bis heute unklar. Im Hintergrund stand jedenfalls die Absicht, den Ursprung der ersten »richtigen Menschen« nach England zu verlagern.
Peinlich war die Geschichte mit der Piltdown-Fälschung vor allem für die damit befassten Paläoanthropologen, die sich so lange so sehr hatten täuschen lassen. Es war dies nicht die einzige Fälschung. Letztlich wurden aber doch alle als solche entlarvt. Die interne Kontrolle und die kritische Sichtung von Material und Befunden machen die Naturwissenschaft wenig anfällig für Täuschung und Fälschungen. Darin steckt eine ihrer großen Stärken. Auch Irrtümer, zu denen es unbeabsichtigt kam, werden korrigiert. So kamen zum Beispiel die ersten Bälge von Paradiesvögeln aus Neuguinea ohne Beine nach Europa. Denn sie stammten vom Schmuck, den sich Papua-Männer gefertigt hatten. Die hinderlichen Beine waren aus den Bälgen entfernt worden. In diesem Zustand, fanden die Damen der noblen Gesellschaft von Ashton, eigneten sich die fußlosen Paradiesvögel ganz vorzüglich als Hutschmuck. Ob das geschmackvoll war und ist, darüber mag man recht unterschiedlicher Meinung sein. Dass das
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