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Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Titel: Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef H. Reichholf
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wir dafür den abwertenden Ausdruck »Sau« verwenden, ist damit zu erklären, dass die Stallhaltung der Schweine ohne nennenswerten Auslauf bei uns schon seit Jahrhunderten, die Aufstallung der Rinder jedoch erst seit wenigen Jahrzehnten üblich geworden ist. Die Rinder waren noch bis in die 1960er und 1970er Jahre einen Großteil des Jahres draußen auf der Weide, wie auch die Schweine in früheren Jahrhunderten, vor allem aber im Mittelalter, tagsüber in die Wälder getrieben wurden oder auf die Schweineweiden in den Fluss- und Seeniederungen kamen. Die Ställe dienten vornehmlich der Nächtigung des Viehs, nicht als Daueraufenthalt. Daher ließen sich die Ställe früher auch regelmäßig von dem reinigen, was die Tiere die Nacht über hinterlassen hatten. Bei einer andauernden Stallhaltung war das nicht mehr möglich, so dass die Schwemmentmistung eingeführt werden musste.
    In den 1950er und 1960er Jahren standen die Kühe im Dorf in meiner niederbayerischen Heimat den Winter über zwangsläufig im Stall. Die Bauern führten sie paarweise zusammengebunden zum Ausmisten kurzzeitig auf den Hof. Nachdem frische Einstreu ausgebracht war, kamen sie wieder in den Stall, wo sie sich wiederkäuend niedertaten. Dabei beschmutzten sie sich nicht mit den eigenen Exkrementen. Eine Massenhaltung von mehreren Hundert Rindern oder gar über Tausend würde zwangsläufig zu einem Augiasstall werden. Herakles war von Augias versprochen worden, das Vieh zu bekommen, wenn er den Stall reinigt. Nachdem der Held seine Aufgabe aber so heroisch-innovativ erledigt hatte und nicht mit der Mistgabel, weigerte sich Augias, die Rinder herauszugeben. Herakles ließ sich das nicht bieten, kam mit einer Streitmacht wieder, erschlug Augias und holte sich nicht nur das Vieh, sondern das kleine Königreich dazu. Eurystheus wollte dennoch die Aufgabe nicht als gelöst anerkennen, weil Herakles Lohn für seine Arbeit geboten worden war.
    Die sechste Aufgabe bestand in der Ausrottung der stymphalischen Vögel. Bei diesen soll es sich um kranichgroße Ungeheuer gehandelt haben, die im Röhricht des Stymphalossees in den Bergen Arkadiens nisteten. Diese Vögel, so hieß es, trugen Schnäbel und Krallen aus Eisen. Mit ihren ebenfalls aus Eisen bestehenden Federn schossen sie wie mit Pfeilen. Herakles sollte diese Vögel vertreiben, damit sie in Arkadien keine Schäden mehr anrichten konnten. Merkwürdigerweise waren diese Vögel scheu und schreckhaft. Herakles, der von seiner Schutzgöttin Athene zwei Schilde aus Metall bekommen hatte, mit denen er knallartige Geräusche erzeugte, vertrieb sie damit. Einige schoss er mit seinen mit Hydrablut vergifteten Pfeilen ab. Mit den Schilden schützte er sich vor ihren Federpfeilen. Die stymphalischen Vögel suchten das Weite und verschwanden.
    Sinn und Zweck dieser Aufgabe erschließen sich nicht so leicht wie das bei den bisherigen der Fall war. Kraniche waren im Alten Griechenland wohl bekannt. Sie brüten nicht in Kolonien. Dafür kommen, auch der Ortsangabe zufolge, nur Reiher in Frage. Graureiher ( Ardea cinerea ) und Purpurreiher ( Ardea purpurea ) würden passen. Es gibt sie auch gegenwärtig verbreitet und örtlich in größeren Kolonien an den Seen des Balkans und Griechenlands. Bei Grau- und Purpurreiher würde, anders als bei den weißen Reihern, die Gefiederfarbe »eisenartig« wirken. Bedrängt schlagen sie zielsicher mit ihren spitzen, sehr harten Schnäbeln ins Gesicht, unter Umständen ins Auge. Federpfeile verschießen sie zwar nicht, aber Pfeile können in ihrer Haut und im Gefieder steckengeblieben sein, weil auf sie geschossen worden war. »Pfeilstörche«, Weißstörche, die mit einem Pfeil im Hals aus Afrika an ihren Brutplatz nach Mitteleuropa zurückkehrten, sind seit langem bekannt. Reiher verwüsten allerdings keine Felder. Sie fangen Fische, Frösche, Schlangen und Mäuse sowie große Insekten, wie Heuschrecken und Käfer. Schäden auf den Feldern hätten Schwärme von Grauen Kranichen anrichten können, wenn sie die Saat herauspicken. Die Graureiher sehen ihnen ähnlich. Da Kraniche nicht in Griechenland brüten und höchstwahrscheinlich auch nie dort gebrütet haben, ist vorstellbar, dass die Bevölkerung die Brutkolonie der Reiher mit den Kranichen verwechselte und von diesen Vögeln befreit werden wollte. Dass sich die Reiher mit dem metallischen Geklapper der Schilde vertreiben und mit den Pfeilen abschießen ließen, klingt durchaus nachvollziehbar. Beim Versuch, die begehrten

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