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Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Titel: Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef H. Reichholf
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Problematik sah sich Herakles bei der nächsten Aufgabe ausgesetzt. Er sollte den erymanthischen Eber zur Strecke bringen. Dabei handelte es sich um ein gewaltiges Wildschwein ( Sus scrofa ), das ebenfalls der Göttin Artemis gehörte. Wie die Hirsche im Tal verheerten die Wildschweine am Berg Erymanthos in Arkadien die Felder. Es ging also auch diesmal um Wildschaden und das Jagdtabu. Wieder sollte Herakles den Eber fangen (!) und lebend nach Mykene bringen. Das Kraftpaket Wildschwein ließ sich jedoch nicht wie ein langbeiniger, grazil gebauter und leichtgewichtiger Hirsch mit einem Netz fangen. Herakles trieb den Eber bergwärts in ein Schneefeld hinein. Das schwere Tier sank ein und ermüdete rasch, so dass Herakles es unverletzt fangen, fesseln und nach Mykene bringen konnte. Eurystheus soll sich dort aus Angst vor dem Eber in seinem Palast in einem Fass versteckt haben.
    Im antiken Arkadien gab es zwar keine Kartoffeln, an denen sich die Wildschweine hätten gütlich tun können, aber genügend andere Feldfrüchte, die vor dem Wild geschützt werden mussten. Ob die Schäden so groß geworden wären wie bei Rudeln von Damhirschen, darf bezweifelt werden. Denn in diesem Fall wäre nicht der Eber, ein bestimmter Eber sogar, das Ziel gewesen, sondern die von einer alten, erfahrenen Wildsau angeführte Rotte. Davon enthält die Sage aber nichts. Vom Eber ging aller Wahrscheinlichkeit nach eine ganz andere Gefahr aus, deren Bedeutung sogleich ersichtlich wird, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie in der Antike die Schweine gehalten wurden. Man trieb sie, bewacht von Schweinehirten, in die lichten Wälder. Darin hatten sich die Schweine ihre Nahrung selbst zu suchen: Eicheln, Wurzeln, Pilze und Käferlarven vornehmlich. Alles dies Futter, das die Menschen selbst nicht direkt hätten verwerten können. Mit Getreide wurden Schweine, wenn überhaupt, sicherlich nur ausnahmsweise gefüttert. Unter solchen beinahe halbwilden Haltungsbedingungen bestand vielfach die Gefahr, dass sich ein Wildschweineber über die Sauen hermachte und sich mit diesen paarte. Die Ferkel enthielten dann zu viel Wildschwein»blut« und drohten herangewachsen außer Kontrolle zu geraten. Die Rückkreuzung mit Wildschweinebern musste vermieden werden. Die umgekehrte Rückkreuzung eines Hausschweinebers mit Wildsauen dürfte willkommen gewesen sein, weil sich die Nachkommen weniger »wild« verhielten und leichter zu erjagen waren. Wütende Wildschweineber sind äußerst gefährlich, ihre Angriffe lebensbedrohlicher als die von Bären oder Raubkatzen. Wo Hausschweine in Australien oder auf ozeanischen Inseln über Jahrhunderte hinweg verwilderten, gelten die Eber als die mit Abstand gefährlichsten Tiere. Sogar Sibirische Tiger ( Panthera tigris ) meiden als stärkste aller Großkatzen Wildschweineber als Beute. In Mittel- und Südamerika jagen Rotten der viel kleineren Pekaris (»Nabelschweine«) Jaguare ( Panthera onca ) und Pumas ( Felis concolor ) in die Flucht und zwar meistens auf Bäume oder Felsen hinauf. Für Herakles war der Lebendfang des großen Ebers sicherlich die bei weitem gefährlichste ›tierische‹ Aufgabe; schwieriger auf jeden Fall als die Bändigung des minoischen Stiers.
    Die nächste Aufgabe war ebenso peinlich wie anrüchig: Herakles musste den Augias-Stall ausmisten, in dem sich große Mengen an Mist angesammelt hatten. Der Sage nach hielt König Augias in diesem Stall 3000 Rinder, allerdings ohne Schwemmentmistung. Herakles führte diese ein und demonstrierte mit seiner Methode, wie eine hygienische Massentierhaltung möglich ist. Er riss Teile des Stallfundaments so heraus, dass er zwei nahe kleine Flüsse umleiten und durch den Stall fließen lassen konnte. Auf diese Weise wurde der Stall entmistet, ohne dass er sich der eigentlichen und für einen Helden so unwürdigen Arbeit des Mistaufladens und Abtransportierens unterziehen musste. Mag auch die Zahl von 3000 Rindern übertrieben groß gewesen sein, so zeigt die Aufgabe doch, dass man schon in der Frühantike die Grenzen der Tierhaltung auszuloten begonnen hatte. Denn auch ein Zehntel, 300 Rinder, hätte sehr viel Mist gemacht. Arkadien muss in jenen Zeiten eine außerordentlich ertragreiche Landschaft gewesen sein. Die heutigen Verhältnisse weichen davon stark ab. Dies gilt es auch in anderen Fällen zu bedenken. »Einen Augiasstall ausmisten« ist zu einer gängigen Redensart geworden, womit bekanntlich ein ganz besonders großer »Saustall« gemeint ist. Dass

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