Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)
verursacht tatsächlich zunächst keine schlimme oder gar tödliche Verletzung. Das Tier musste nur umsichtig genug getragen worden sein. Dann konnte es beim Lösen der Fußfesseln durchaus davonlaufen.
All das fügt sich so realistisch zusammen, dass lediglich die »goldenen Hufe« und das »goldene Geweih« nicht dazu passen. Hirschkühe tragen gar kein Geweih. Die Ausnahme brauchen wir hier nicht in Betracht zu ziehen, denn um ein Rentier, bei dem beide Geschlechter Geweihe tragen, die Weibchen allerdings bedeutend schwächere als die Hirsche, kann es sich in Arkadien sicherlich nicht gehandelt haben. »Der Hirsch«, der Rothirsch ( Cervus elaphus ), kommt in Arkadien nicht vor. Es gibt dort auch keine andere Hirschart. Für den Rothirsch taugt die Landschaft zudem nicht. Wo es gegenwärtig Vorkommen in Regionen des östlichen Mittelmeerraumes gibt, befinden sich diese in den kühlen höheren Gebirgsregionen, nicht unten in den sommerheißen Tälern. Im heutigen Arkadien gibt es überhaupt keine Hirsche. Das muss vor zweieinhalb bis drei Jahrtausenden aber nicht so gewesen sein. Damals können andere Verbreitungsverhältnisse geherrscht haben. Dass es Rothirsche in Arkadien gegeben hat, ist dennoch nicht sehr wahrscheinlich. Ein anderer Hirsch kommt viel eher in Frage und bei diesem würde auch das »goldene Geweih« ganz gut passen. Es ist dies der Damhirsch ( Dama dama ). In der Antike war er im europäischen Bereich des östlichen Mittelmeerraumes ausgerottet worden. Restbestände überlebten in der südöstlichen Türkei und im Zweistromland, weshalb der Damhirsch oft auch ›Mesopotamischer Damhirsch‹ genannt worden ist. Anders als der Rothirsch, der das bekannte ›Stangengeweih‹ mit spitzen Enden trägt, entwickelt der Damhirsch mit fortschreitendem Alter aus dem kleinen Spießergeweih ein breitflächiges Schaufelgeweih mit stumpfen Enden, die nach vorn gerichteten ›Augsprossen‹ ausgenommen. Es wirkt auf Bogenschussentfernung durchaus goldgelb. Dass diesem flüchtigen Hirsch dann auch noch »goldene Hufe« nachgesagt wurden, war naheliegend. Mit einem Gewicht von 45 bis 150 Kilogramm ist so ein Damhirsch auch zu tragen. Rothirsche wären mehr als doppelt so schwer. Damhirsche leben in größeren Gruppen, die enger zusammenhalten als die Rothirsche. Sie bilden Herden. Solche verursachen auch kurzzeitig beträchtlichen Schaden an den Feldfrüchten. Das Rotwild äst stärker verteilt. Die ausgeprägteste Gruppenbildung findet bei ihnen zur Zeit der Brunft im Spätherbst statt, wenn die Felder bereits weitgehend abgeerntet sind. Damhirsche sind sehr schnell und flüchtig, halten aber auf längere Strecken weniger gut durch als die kräftigeren Rothirsche. Diese werden in weiten Teilen ihres natürlichen Areals von Wölfen gejagt. Bei der Jagd arbeiten die Wölfe in Gruppen zusammen. Südliche Vorkommen von Wölfen tendieren zu kleineren Gruppen oder zu paarweisem Leben.
Bleibt noch ein Letztes zu klären: die Bezeichnung Hirschkuh. Denn auch bei den Damhirschen sind die Weibchen geweihlos. Wenn nicht ein Übersetzungsfehler vorliegt, so gäbe es die Erklärung, dass die Griechen jener Zeit die größere und die kleinere Hirschart mit männlich und weiblich unterschieden hatten. Sogar in unserer Zeit meinen nicht wenige Menschen, das Reh sei »die Frau des Hirsches«. Da beide Hirscharten ihr Geweih alljährlich abwerfen und eine Zeitlang als »Kahlwild«, so die jagdliche Bezeichnung, herumlaufen, trifft die grobe Vorsortierung nach der Körpergröße gegebenenfalls sogar zu. Mit der Ausrottung des Damhirsches in Griechenland verschwanden die Kenntnisse zu diesem Hirsch für die nächsten eineinhalb Jahrtausende. Erst seit dem europäischen Mittelalter ist der Damhirsch wieder an zahlreichen Stellen, auch in Mitteleuropa, eingebürgert worden. Damhirsche gedeihen am besten in weiträumigen Parklandschaften von der Ebene bis in die mittleren Höhenlagen, wenn das Gelände nicht zu felsig und nicht zu steil ist. Arkadien hatte genau diese Lebensbedingungen geboten. Da der Kerynitische Hirsch der Göttin Artemis gehörte, durfte Herakles das Tier nicht töten. Es musste, nachdem er es gefangen hatte, wieder freikommen. Damhirsche springen außerordentlich gut. Die Herakles gestellte Aufgabe ließ sich lösen, ohne das Jagdtabu zu brechen. Der örtlichen Bevölkerung aber war gezeigt worden, wie man dem Schäden auf den Feldern verursachenden Wild beikommen kann: mit Netzfang.
Einer ganz ähnlichen
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