Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)
Vogeleier aus Reihernestern zu holen, kann es schmerzhafte, gefährliche Schnabelhiebe gegeben haben. Vogeleier wurden in der Antike wie auch noch im 20. Jahrhundert zum Verzehr gesammelt und sehr geschätzt. Der Verzehr von Möwen- und Kiebitzeiern ist erst in unserer Zeit sehr stark zurückgegangen, seit bekannt geworden ist, dass sie Salmonellen enthalten können.
Möglicherweise tarnten sich auch Räuber mit Vogelmasken und schossen mit Eisenspitzen tragenden Federpfeilen. Nach der Vertreibung der Vögel wirkte die Markierung nicht mehr als Schutz. Das Motiv der Kranichkrieger, ich habe bereits darauf hingewiesen, war im Altertum weit verbreitet, wohl weil die Kraniche wie Soldaten in Reihen übers Land schritten, wo sie auf dem Flug zum Nildelta und hinein nach Afrika eine Zwischenrast einlegten.
Denkbar ist schließlich eine Verbindung zu »Todesvögeln«, die sich an den Leichen der getöteten Krieger einfanden und diese zu öffnen versuchten. Sicher war in jener Zeit der ibisartige Waldrapp ( Geronticus eremita ) mit seinem sehr metallisch glänzenden Gefieder noch weit verbreitet. Als ›Wall-Rabe‹ war er bis ins späte Mittelalter auch nördlich der Alpen an verschiedenen Stellen vorhanden und betätigte sich am Verzehr von Leichen, die in den Graben vor den Burg- oder Stadtwällen geworfen worden waren. Die Nackenkrause an seinem Hinterkopf bildet einen Halbkranz langer, pfeilartig spitzer Federn.
Die stymphalischen Vögel fassen daher wahrscheinlich Eigenschaften mehrerer Vogelarten zusammen, die es im Antiken Griechenland gegeben hatte, die aber nur lokal vorkamen, so dass man sie nicht allgemein kannte. Welches Risiko Herakles mit ihrer Vertreibung einging, blieb weitgehend unklar. Der Argonautensage zufolge lebten solche Vögel auf der Insel Aretia. Sie fielen über die Argonauten her, als diese auf der Fahrt nach Kolchis auf der Ostseite des Schwarzen Meeres dort landen wollten. Möwen und Seeschwalben greifen Menschen, die in ihre Brutkolonien eindringen, sehr heftig an und »beschießen« die Eindringlinge mit ihrem Kot und mit einem stinkenden Brei aus ihrem Kropf. Seeschwalben schlagen auch mit ihren scharfspitzigen Schnäbeln zu. Diese Querverbindung zu den Argonauten verstärkt die Deutung, dass es sich bei den stymphalischen Vögeln um eine Mischung verschiedener Vögel handelt und nicht um eine bestimmte Vogelart.
Klare Verhältnisse gibt es, zumindest auf den ersten Blick, wieder bei der siebten Aufgabe, dem Einfangen des kretischen (minoischen) Stiers. Doch mit diesem hat es eine besondere Bewandtnis. Minos, der König von Kreta, hatte listig Poseidon, dem Gott des Meeres, als Opfer das nächste Tier angeboten, das den Fluten entsteigen würde. Doch anstatt eines Krebses oder eines Seehundes kam ein wunderschöner großer weißer Stier. Poseidon hatte den König durchschaut und ihn reingelegt. Dieser, höchst beeindruckt von der Schönheit und Größe des Stieres, führte ihn zu seiner Herde, wählte einen seiner eigenen Stiere und opferte diesen dem Gott des Meeres. Poseidon ärgerte dieser Betrug. Er veranlasste, dass sich Pasiphae, die Gattin von König Minos, in den schönen Stier verliebte. Daidalos musste ihr eine hölzerne Kuh bauen. In diese stieg sie hinein und ließ sich vom Stier begatten, von dem sie nicht mehr ließ. Schließlich gebar sie anstelle eines Menschenkindes den Minotaurus, halb Mensch, halb Stier. König Minos sah sich gezwungen, ihn im eigens dafür gefertigten Labyrinth in Knossos gefangen zu halten, um zu verhindern, dass der Mischling noch Schlimmeres anrichtete als sein Vater, der Stier. Dieser war nämlich rasend geworden.
Herakles war nach Kreta gefahren und hatte sich erboten, den wilden Stier zu bändigen. König Minos gab gern die Erlaubnis, zumal ein vorausgegangener Zähmungsversuch bereits gescheitert war. Er sagte ihm sogar zu, dass er den Stier mitnehmen könne, wenn ihm die Bändigung gelingen sollte. Herakles schaffte auch dieses und transportierte als Bestätigung den Stier zu Eurystheus, ließ ihn aber auf dem Peloponnes frei. Das sogleich wieder wilde Tier streifte durch Arkadien und die Gegend um Sparta, richtete Verwüstungen an, tötete Menschen und gelangte schließlich über den Isthmus nach Marathon hinüber. Dort bezwang ein anderer Kraftprotz, Theseus, den Stier, der inzwischen marathonischer Stier genannt wurde. In Athen wurde er dem Gott Apollon geopfert.
Das Toben des Stieres erweckt den Verdacht auf Tollwut, zumal er
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