Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Titel: Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef H. Reichholf
Vom Netzwerk:
Indien. Sein »Einhorn« hatte die Füße von Elefanten und das Schwänzchen eines Ebers. Und es war schwarz. Was er mit dem Körper eines Pferdes meinte, ist unklar, aber nicht unbedingt ein Widerspruch, wenn es ihm etwa darum ging, das Nashorn von anderen großen Tieren zu unterscheiden. Schließlich heißt das Flusspferd/Nilpferd seit jener Zeit auch »Pferd des Flusses« ( hippo-potamos ). Lediglich der Kopf eines Hirsches will nicht so recht zum Nashorn passen, doch da wissen wir nicht, welche Hirschform gemeint gewesen sein könnte. Der indische Sambar ( Rusa unicolor ) ist für uns auch nicht gerade der Inbegriff des Hirsches. Doch er hat auffallend löffelförmige Ohren wie ein Nashorn. Von dieser Restunschärfe abgesehen, beschrieb Megasthenes also wahrscheinlich jenes andere »Einhorn«, das die Griechen zutreffend Nashorn genannt hatten. Vielleicht hatte er ein Jungtier zu sehen bekommen, weil sich solche im Gegensatz zu den bis über zwei Tonnen schweren Erwachsenen noch einfangen und transportieren lassen. In Indien spielt die Behandlung von Schlangenbissen eine ganz besondere Rolle. Giftschlangen, insbesondere Kobras, sind häufig. Es gibt sie überall in den halbtrockenen Regionen und den Monsungebieten Nord- und Nordwestindiens. Schlangen und Menschen trafen in den Anbaugebieten von Getreide häufig zusammen, weil gelagertes Korn Mäuse anzog, hinter denen die Schlangen her waren. Der Umgang mit Giftschlangen, die »Schlangenbeschwörung«, hat in Indien eine uralte Tradition. Bisse traten infolgedessen häufiger auf als in Vorderasien, im Niltal und in Griechenland, wo es nur wenige und vergleichsweise harmlose Giftschlangen gibt. Bei den Alten Ägyptern hielten Katzen die Speicher einigermaßen frei von Mäusen und Ratten. Die katzenköpfige Göttin Bastet war ihre Beschützerin. Wie hoch sie geschätzt waren, geht aus den vielen Katzenmumien hervor, die man gefunden hat. Schlangen, noch dazu giftige, brauchte man im Alten Ägypten für diesen Zweck nicht. Das Ichneumon ( Herpestes ichneumon ), eine Schleichkatze ähnlich wie der Indische Mungo, bekämpfte die Schlangen. Sein Name bedeutet im Griechischen »der Aufspürer«. Den Ägyptern aus der Zeit des Alten Reiches und der Ptolemäer war das Ichneumon als Schlangenjäger heilig. In Indien, wie auch sonst in Süd- und Südostasien kam hingegen den Schlangen die Aufgabe der Vertilgung der Nager zu. Entsprechend unterschiedlich gestaltete sich der Bedarf an Gegenmitteln gegen Schlangenbisse und anderes Gift. Die Wirkung von pulverisiertem Horn wurde wahrscheinlich in den schlangenreichen Gebieten Asiens entdeckt. Inwieweit es auch gegen pflanzliche Gifte wirkte, ist unklar, aber aus den oben schon geschilderten Gründen der großen Adsorptionsfähigkeit des feinen Hornmaterials nicht von vornherein auszuschließen. Hieraus ergibt sich, dass das Indische Einhorn, das Nashorn, eine ganz andere Bedeutung als das vorderasiatisch-nordafrikanische hatte. Als die Zeiten im Mittelalter wieder besonders »giftträchtig« wurden, verlagerte sich das Gewicht sehr deutlich auf diese Form des Einhorns. Nashorn war aber kaum zu beschaffen. Es wurde nach Ersatz gesucht.
    Diesen brachten Seefahrer aus dem Hohen Norden nach Europa als die mittelalterliche Erwärmung des Klimas das Nordmeer befahrbar werden ließ. Wikinger, vielleicht auch schon die Basken, dürften die Hauptlieferanten dieses »Stoßzahn-Einhorns« gewesen sein. Sein Träger war und ist der Narwal. Der Nähe Schottlands zum Nordmeer gemäß gelangte dieser Zahn ins schottische Wappen und drückte damit den nahezu unablässig schwelenden Konflikt Schottlands mit England aus. Da der Wal als Träger dieses »Horns« nicht bekannt(-gegeben worden) war, wurde der schraubig gedrehte Narwalzahn im Wappen einfach dem pferdeartig dargestellten Einhorn auf die Stirn gesetzt.
    Einen ganz anderen Weg nahm das mystisch verwandelte Einhorn in der höfischen Zeit des Mittelalters. Zwar hatte noch Hildegard von Bingen im 12. Jahrhundert empfohlen, den Aussatz (Lepra) mit einem Brei aus Eidotter und der Leber des Einhorns zu behandeln, aber woher die Einhornleber kommen sollte, verriet sie nicht. Gemeint war vielleicht Lebertran, der zum Narwal als Meerestier gepasst hätte, aber von großen Meeresfischen wie Dorschen stammte. Das Einhorn hingegen ruhte bereits friedlich im geschlossenen Garten, dem Hortus conclusus , und legte sein Horn in den Schoß der Jungfrau (Maria). Das Weiß des Tieres drückte die

Weitere Kostenlose Bücher