Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)
Reinheit aus, so wie es der Mythos will und wie wir es vom Weißen Hirsch mit dem Kreuz auf der Stirn kennen. Weiß bedeutete nicht nur rein, sondern auch zahm und friedlich, auf jeden Fall aber edel. So friedvoll und der Welt entrückt die Bilder auf uns wirken mögen, sie trugen eine verborgene Botschaft. Das lange, spitze Horn symbolisierte den Phallus. Es verwies als Allegorie auf die körperliche Liebe. Die Dame, die das wilde Einhorn so zähmte, dass es ihr seine stärkste Waffe, das Horn, in den Schoß legte, bedeutete keineswegs nur die Jungfrau Maria, sondern die verborgene Kraft des Weiblichen, der stärkste Männer verfallen. Die Keuschheit war jedenfalls mitunter nur sehr vordergründig gemeint, etwa wenn dem »gezähmten Einhorn« der (lateinische) Satz unterlegt wurde »so wirkt die Liebe zur Tugend«. Als im späten 15. und im 16. Jahrhundert im christlichen Abendland die Zeiten freizügiger wurden, tauchten Darstellungen des Einhorns bei Hochzeiten auf. Der flämische Gobelin »Die Dame und das Einhorn« ist ein Beispiel für die direkter gewordene Anspielung. Eine Gegenbewegung mystifizierte das Einhorn umso mehr. Es wurde Jesus gleichgesetzt, den der Erzengel in Gottvaters Auftrag Maria in den Schoß getrieben hatte. Die allegorische Vermengung von Erotik und Spiritualismus erscheint immer wieder in veränderten, der jeweiligen Zeit gemäßen Formen.
Das mittelalterliche Einhorn befindet sich jedenfalls eingefriedet in einem schönen Garten. Es ist gezähmt. Es lebt in Gefangenschaft. Sein Horn wird nicht mehr zu Pulver gegen Gift verarbeitet. Seine Statur ist die eines edlen Pferdes. Die Bildnisse näherten es wieder dem alten Vorbild an, das niemand mehr kannte. Es kam die Zeit, die Blicke auf echte, lebendige Nashörner ermöglichte. Albrecht Dürer zeichnete eines, dass es schwerfällt, zu glauben, er hätte keines gesehen. Die Geschichte des Dürer-Nashorns ist tatsächlich etwas ganz Besonderes. Sie entkleidete das »Zweite Einhorn« seines Mythos.
Im Januar des Jahres 1515 verließ die ›Nossa Senhora da Ajuda‹ zusammen mit zwei weiteren portugiesischen Schiffen den Hafen von Goa an der Westküste Indiens. Es hatte eine ungewöhnliche Fracht an Bord, ein Rhinozeros. Der Sultan Muzafar II. von Cambay (im heutigen Gujarat nördlich von Bombay gelegen) machte es aus diplomatischen Gründen dem portugiesischen König Manuel I. zum Geschenk. Fünf Jahre waren gerade vergangen, seit die Portugiesen ihren Stützpunkt Goa in Indien errichtet hatten. Über Verträge und Handelsbeziehungen mit den örtlichen Herrschern festigten sie ihre Vorherrschaft im Indischen Ozean und im Arabischen Meer. Für den König von Portugal würde das Geschenk, so die Einschätzung von Alfonso de Albuquerque, seines Vertreters in Indien, große Bedeutung haben, weil Portugal mit Spanien noch immer heftig konkurrierte. Papst Alexander VI. hatte zwar 1494 im Vertrag von Tordesillas den Globus unter den beiden allerchristlichsten Rivalen Spanien und Portugal aufgeteilt. Die östliche Hälfte ging an Portugal, aber dort lagen die Grenzen noch nicht fest. Portugal fand fast zwei Jahrtausende nach den Phöniziern den richtigen Seeweg nach Indien um Afrika herum. Von dort strömten nun die Reichtümer Arabiens und Indiens über Lissabon nach Europa, während sich die Spanier am Gold der Neuen Welt Amerikas berauschten.
Kein Tier hätte in dieser weltpolitischen Lage ein besseres Geschenk an König und Papst abgegeben. Gepanzert war es wie die Ritter jener Zeit und dazu ungemein stark. Das spitze Horn ließ sich mit schweren mittelalterlichen Stichwaffen vergleichen. Es sah aus wie eine Kampfmaschine. Als solche sollte es am Hof Manuels I. erprobt werden. Doch vorerst musste das Rhinozeros die lange Seefahrt überstehen. Zwischenlandungen zur Aufnahme von Wasser und Futter waren an der ostafrikanischen Küste, auf der Insel Sankt Helena im Südatlantik und auf den Azoren notwendig. Am 20. Mai 1515 erreichten die Schiffe schließlich den Hafen von Lissabon. Das gepanzerte Tier hatte überlebt. Es war nach über 1200 Jahren das erste Nashorn, das wieder nach Europa kam. Hocherfreut steckte es der König in seine Menagerie im Ribeira-Palast. Darin lebte auch ein Elefant. Nach zwei Wochen hielt der König die Zeit für gekommen. Er wollte die auf Plinius den Älteren zurückgehende Meinung überprüfen, dass Elefant und Nashorn Todfeinde seien. Für den 3. Juni 1515 wurde das Schauspiel angesetzt. Eine große, sehr
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