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Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Titel: Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef H. Reichholf
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Erwachsene sicherlich auch kaum zu kontrollieren. Ein herrliches Mosaik aus der Villa del Casale in Sizilien, das aus dem 3. oder 4. Jahrhundert stammt, zeigt folgerichtig ein noch recht junges, »handsames« Spitzmaulnashorn. Im Vergleich zu den beiden Männern, die das Tier begleiten, ist es klein. Die »spitz« auslaufende, zum Ergreifen von Blättern an Büschen und kleinen Bäumen geeignete Oberlippe weist es als Spitzmaulnashorn aus.
    Obwohl seit den Zeiten der Römer mehr als tausend Jahre lang kein Rhinozeros mehr nach Europa kam, war es ein bekanntes Tier geblieben. Begehrt war sein Horn, nicht das Tier selbst. Mit der Verfrachtung lebender Nashörner nach Europa hatte es als »Einhorn« ausgedient. Seine andere, die frühere Version von Ktesias war übrig geblieben. Was mag es ursprünglich für einen Sinn gehabt haben?

    Wir müssen wieder zurückblenden. Die zur zoologischen Bestimmung herangezogenen Eigenschaften hatten ergeben, dass sehr wahrscheinlich die Arabische oder Weiße Oryx das Vorbild für das Einhorn gewesen war. Nachdem sich nunmehr die indische Version, das (Panzer)nashorn, davon klar hat trennen lassen, bleibt die Frage, warum ausgerechnet eine scheue, wegen ihrer spitzen Hörner gefährliche Antilope ein solcher Mythos geworden ist. Beim Nashorn bot das Horn als Mittel zum Binden von Gift eine plausible Begründung. Weltliche wie kirchliche Herrscher hatten reichlich Gründe, sich gegen Giftanschläge möglichst gut zu wappnen. Der sichtbare Hinweis, dass das beste Gegenmittel, das Horn des Einhorns, verfügbar ist, kann vergleichbar einer ungeladenen Pistole abgeschreckt haben. Das Horn war ja mit Gold aufgewogen worden. Was hätte im Vergleich dazu die Antilope bieten können? Dass sie davonläuft, dass sie nicht zu zähmen ist? Den phallischen Charakter des Horns verlieh diesem ersten Einhorn eine viel spätere Zeit, in der das Sexuelle verdrängt werden musste und nur in verdeckter Weise angedeutet werden durfte. In jener Zeit, in der das Einhorn möglicherweise noch lebte und das Hohe Lied Salomons entstand, herrschte ein weitaus freizügigerer Umgang mit Liebe und Sexualität.
    Der Schlüssel zum Verständnis des ursprünglichen Einhorns steckt im Hinweis auf seine Stärke und dass es sich sogar des stärksten natürlichen Feindes, des Löwen, erfolgreich erwehrt. Als einziges der im Altertum bekannten Tiere war der Elefant dazu in der Lage. Man wusste wohl auch, dass Löwen sogar starke Büffel bewältigen. Und selbst wenn das afrikanische Nashorn schon bekannt gewesen sein sollte, spielte es bei der Abwägung von Kräften und Stärke keine Rolle. Samson und Herakles kämpften gegen Löwen. Elefanten waren keine Feinde. Es gab sie im Lybia genannten Afrika. Im kultivierten Bereich traten sie nicht auf. Hannibal hätte mit seinen Elefanten keine derartige Panik auslösen können, wären diese Riesen bekannt genug gewesen. Erstaunlich genug hatten sie sich so weit führen lassen, dass sie bis »über die Alpen« kamen. Denn die Afrikanischen Elefanten gelten als kaum zähmbar und im Vergleich zu den Indischen als ausgesprochen schwierig. Nashörner schieden für solche Vorhaben selbstverständlich von vornherein aus. Ihre Zähmung ist nie gelungen. Somit waren große Stiere der gezüchteten Rinder die stärksten Tiere, mit denen die Menschen direkt zu tun hatten. Gegen die Löwen reichte ihre Stärke nicht. Dass sich eine wesentlich kleinere Antilope erfolgreich der Löwen erwehrt, mag zwar beeindruckt haben, bot aber sicherlich zu wenig Stoff für ein Fabeltier. Das kleine Ichneumon bezwingt die große Giftschlange. Das Stachelschwein wird von den Löwen in Ruhe gelassen, weil sie seine Stacheln nicht in die Nase oder in die Pfoten bekommen wollen. Löwen laufen auch nicht besonders schnell. An ihre Beute müssen sie heranschleichen oder ihr am Wasserloch auflauern, wenn die Tiere zum Trinken kommen. Die kleinen Gazellen laufen in offenem Gelände den Löwen davon; die größeren Antilopen auch. Sicher ist es beeindruckend, wenn Oryx-Antilopen mit ihren spitzen Hörnern einen Löwen schwer verletzen. Aber wie oft geschieht das? Sind da nicht Hirtenhunde, die Wölfe verjagen, höher zu schätzen? Sie beschützen die Herde und riskieren durchaus ihr Leben dabei.
    Man kann es drehen und wenden, wie man will. Eine wirkliche Besonderheit geht aus den Eigenschaften, die dem Einhorn zugeschrieben worden waren und die mit der Weißen Oryx übereinstimmen, nicht hervor. Somit verbleiben

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