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Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Titel: Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef H. Reichholf
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Nichts verfolgen, um sie zu fangen?! Zum Erfolg geriet der Fangversuch nur bei Jungtieren, die nicht mehr ausschließlich von der Mutter abhängig waren, aber die Ausdauer der Erwachsenen noch nicht erreicht hatten – und keine so lebensgefährlichen Hörner trugen. Es waren sicherlich Spezialisten, die diese Antilopen für die Opferfeste fingen. Besondere Wächter waren gewiss auch nötig, wenn die Oryx in Gehegen gehalten wurden. Sie können hoch und weit springen. Sollen im südwestlichen Afrika Zäune die Spießböcke fernhalten oder einschließen, müssen diese extra hoch gebaut werden. Der Schwierigkeitsgrad, sie herzustellen, übertrifft die Anforderungen bei der Schaf- und Ziegenhaltung bei weitem.
    In der Genauigkeit der alten Beschreibungen spiegeln sich somit die damaligen Kenntnisse über die Oryx-Antilopen recht gut. Spätestens um die Zeitenwende gingen sie verloren. Später mag die Feststellung, dass es sich beim Einhorn um Oryx-Antilopen gehandelt hatte, zu »gewöhnlich« gewesen zu sein, um glaubhaft zu wirken. Das fabelhafte Einhorn war den Menschen längst eine zu bedeutsame Besonderheit. Die Diagnose, dass es sich »nur« um eine große Antilope gehandelt habe, reichte offenbar selbst unserer Zeit nicht als Erklärung für das »Phänomen Einhorn«.
    Warum aber machte man schon vor dem Klassischen Altertum so viel Aufhebens von diesem Tier, obwohl man sich in hellenistischer Zeit nicht mehr so dafür interessierte? Bei den Römern hatte es offenbar kaum noch Bedeutung. Dann aber mutierte es im Mittelalter zu einer so besonderen Allegorie.
    Für eine vertiefte Analyse des Phänomens Einhorn ist es nötig, das später Hinzugefügte vom Ursprünglichen zu trennen. Tatsächlich hat man dem Einhorn einiges angedichtet, als man es als reales Tier nicht mehr kannte. So etwa die Wirkung seines pulverisierten Horns. Es sollte Wasser entgiften und Schlangenbisse heilen können. Diese dem Horn des Einhorns zugeschriebene Eigenschaft stammt jedoch von einem anderen »Einhorn«, nämlich vom Indischen Panzernashorn, das Albrecht Dürer in seinem bekannten Bild so meisterhaft und naturgetreu abgebildet hatte. Zu Pulver zerriebenes Nashornhorn, das nur aus Horn besteht und keinen Knochen im Innern trägt, erzeugte wohl eine ähnliche Wirkung wie heutzutage Aktivkohlepulver. Die Hornsubstanz (Keratin) bindet Stoffe, die giftig wirken können, physikalisch durch die sogenannte Adsorption. In alten Zeiten, in denen Vorkoster für die Herrschenden unabdingbar waren, weil sie stets versuchter Giftmorde gewahr sein mussten, war ein derartiges Pulver sicherlich Gold wert. Und mit Gold wurde das Einhorn(pulver) auch aufgewogen. Die Panzernashörner waren jedoch schon im Mittelalter so selten, dass dem ›Mittel‹ ganz von selbst ein entsprechend hoher Wert zukam. Denn je rarer etwas wird, von dem man sich eine Wirkung verspricht, desto höher steigt bekanntlich der Preis. Fälschungen wurden angeboten und mussten vom »echten Einhorn« unterschieden werden.
    Das echte Pulver stammte natürlich nicht mehr von der bis auf winzige Restvorkommen im fernen Süden der Arabischen Halbinsel ausgestorbenen Weißen Oryx. Ihre dünnen, langen Hörner hätten sich auch dann kaum als Trinkgefäß geeignet, wenn sie in bestmöglicher Weise vom Knochenzapfen abgelöst worden wären. Die giftbindende Wirkung des Oryxhorns wäre zudem gleich null gewesen. Wie hätte man es auch pulverisieren können? Wahrscheinlicher ist es, dass es sich auch im Altertum schon um die Hörner von Nashörnern gehandelt hatte. Diese bestehen ganz aus Horn. Sie sind innen verhältnismäßig weich, weil sie aus dem Keratin von verdichteten Haaren bestehen. Sie werden nicht annähernd so kompakt wie das Horn von Rinderhörnern. Nashornhörner lassen sich aushöhlen. Im Jemen sind sie auch in unserer Zeit noch so begehrt, dass die Wilderei die mit weitem Abstand größte Bedrohung für das Überleben der Nashörner darstellt. Die Hörner dienen als Scheide für die Dolche, die damit ihre Schärfe nicht verlieren. Einen Dolch mit einer Scheide aus Nashorn zu besitzen, soll augenfällig die Potenz des Trägers ausdrücken. Der alte griechische Name rhinokeros , der im Gegensatz zu monokeros ganz direkt die Nase benennt, bezieht sich zweifellos auf das Nas(en)horn. Dass diese Tiere aus Indien bekannt waren, macht nicht zuletzt der Indienfeldzug Alexander des Großen im Jahre 326 v.Chr. wahrscheinlich. Megasthenes lebte in dieser Zeit und war selbst in

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