Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)
zwei Möglichkeiten. Entweder war von Anfang an die Nashorn-Version die wirklich wichtige, nicht die von Ktesias, und die mystische Auslegung im Mittelalter hatte ein neues Einhorn geschaffen, das zur Allegorie taugte, mit dem von Ktesias aber fast nichts zu tun hatte. Oder die Hinweise in den Büchern Mose und die Darstellung von Ktesias waren wirklich bedeutungsschwer, aber das Besondere ist noch nicht erkannt worden.
Greifen wir daher eine andere Quelle auf. Es sind dies die Darstellungen der Oryx-Antilopen auf altägyptischen Bildern. Gleich mehrere davon enthält das auch beim Phönix zitierte Buch von Joachim Boessneck (1988). Die Bilder zeigen, worum es damals wirklich ging: um Zähmung und Domestikation. Alle drei in der Umgebung Ägyptens vorkommenden Oryx-Antilopenarten sind auf Reliefdarstellungen nämlich nicht nur eindeutig als solche zu erkennen, sondern auch in ihrer Funktion dargestellt. Sie sollten Haustiere werden! Die Oryx-Antilopen treten zusammen mit echten Haustieren, wie Rind, Schaf und Ziege, auf und nicht als Jagdbeute. Sie werden gefangen vorgeführt, vielleicht um sie zur Opferung zu bringen. Höchstwahrscheinlich wurden sie als Tribut nach Ägypten gebracht, denn sie kamen im Land am Nil nicht vor. Die Darstellungen deuten sogar Zuchtversuche an, weil Alttiere mit Jungen zu sehen sind. Ganz offensichtlich ging es damals, als die Oryx noch Antilope und nicht das Fabelwesen Einhorn war, um ihre Domestikation. Es blieb bei den Versuchen. Das Einhorn wurde kein Haustier.
In freier Natur verschwanden alle drei Arten rasch aus dem Bereich des Klassischen Altertums unserer Geschichte. Die Arabische Oryx wurde in den Süden der Arabischen Halbinsel zurückgedrängt, wo sie in Oman in jüngster Vergangenheit in der freien Natur ausgerottet wurde, aber aus Zoonachzuchten in unserer Zeit wieder ausgewildert werden konnte. Die Beisa-Oryx ( Oryx gazella beisa ) zog sich bis jenseits von Äthiopien zurück in die Halbwüsten von Nordkenia und Somalia. Nur kleine Restvorkommen überleben noch in Südäthiopien. Die Säbelhorn-Oryx ( Oryx dammah ) entging in fernen Einöden der Sahara knapp der vollständigen Ausrottung und zählt auch gegenwärtig noch zu den akut bedrohten Säugetierarten. Am so drastischen Rückgang waren allerdings weniger die Menschen als das Klima schuld. Vor rund zweieinhalb Jahrtausenden ließ eine große Klimaveränderung weite Teile der Arabischen Halbinsel, des Vorderen Orients und die Sahara austrocknen. Aus früherem Savannenland sind Wüsten geworden. Die Orxy verlor mit diesem natürlichen Vorgang zwar große Teile ihrer ehemaligen Verbreitung, aber als Spezialisten für Halbwüsten konnten diese großen Antilopen sehr wohl in entlegenen, den Menschen nicht oder nur äußerst schwer zugänglichen Gebieten die Jahrtausende bis in unsere Zeit überleben. Sie überlebten in Trockenregionen, die Menschen kaum besiedeln können.
In ihrer Fähigkeit, unter solch harten Bedingungen zu überleben, äußert sich die ganz große Besonderheit dieser Antilopen. Ideale Haustiere wären sie für Hirtennomaden geworden, hätte man sie zähmen und domestizieren können. Denn die Oryx kann wochen-, mitunter sogar monatelang ohne Wasser auskommen. Sie erzeugt aus dem dürren Futter, das sie in den Halbwüsten aufnimmt, bei der Verwertung in ihrem Körper so viel sogenanntes Stoffwechselwasser, dass sie nicht regelmäßig zur Tränke muss wie Rinder und Schafe oder Ziegen. Mit einer Herde solcher Tiere unterwegs zu sein hätte die große Freiheit für die Nomaden bedeutet. Sie wären weit weniger abhängig vom Wasser geworden. Gutes Fleisch hätten diese Nutztiere geboten und Milch dazu, wenn die Muttertiere kalbten. Anspruchslose Tiere, so groß wie Hirsche oder wie kleine Rinder, die sich außerdem selbst gegen Löwen verteidigen und denen lange Wege durch die Halbwüsten nichts hätten anhaben können, was wären das für großartige Haustiere gewesen! Eigenschaften von Kamelen und Rindern hätten sie in sich vereinigt. Sie hätten sich selbst wie mit scharfen Lanzen bewaffnete Wächterhirten bewacht. Niemand und nichts vermag ihnen in die lebensfeindlichen Wüsten zu folgen, in die sie sich bei Gefahr zurückziehen. Falls nötig, können sie ihre Körpertemperatur um mehrere Grad Celsius absinken lassen, um den Verbrauch von Energie und den Bedarf von Wasser einzuschränken. Wer ihre Fähigkeiten erleben möchte, kann sie in der südwestafrikanischen Namib-Wüste aufsuchen. Es ist ein
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