Einkehr zum toedlichen Frieden
können Vögel ungestört brüten. Der Zaunkönig, der Steinschmätzer,
der Neuntöter …«
»Der was?«, frage ich.
»Der Neuntöter, eine Vogelart aus der Familie der Würger.«
Ich schweige und lausche dem fröhlichen Gezwitscher in den
Baumwipfeln. Von Vögeln mit sehr bedrohlichen Bezeichnungen. Nicht einmal die
Natur trägt hier friedliche Namen!
»In den gesprengten Höhlen der Bunker hausen auch Wildkatzen,
Füchse, Dachse und Marder«, fährt Hein fort. »Und Fledermäuse, vor allem die
vom Aussterben bedrohten.«
»Wie Dracula«, sage ich, »dem würde ein Dasein zwischen all den
Drachenzähnen und Neuntötern sicher sehr behagen.«
Ich atme befreit auf, als wir kurz danach aus dem dunklen Wald
wieder in die offene Landschaft treten. Im Schatten der schmalen Baumreihe, die
unseren Pfad von der Bundesstraße trennt, wirkt die Höckerlinie jetzt weniger
gespenstisch.
Zu unserer Rechten drehen sich träge die riesigen Flügel zahlreicher
Windräder, die sich über Felder voller Wildblumen erheben.
Ich pflücke einen Strauß und lasse mir von Hein die Namen der
unbekannten Blüten nennen.
»Bist du Florist?«, frage ich.
Er schüttelt den Kopf.
»Auch nicht Friseur oder Balletttänzer«, gibt er mit feiner
Selbstironie zurück. »Ich arbeite als Eventmanager in Köln.«
»Was für Events?«
Er überlegt einen Moment, sagt dann: »Meine Mutter lasse ich in dem
Glauben, dass ich Schützenfeste und Volksmusikabende organisiere.«
» Ich bin so wie duhu «, trällere ich den
Marianne-Rosenberg-Sound, der aus seinem Handy gekommen ist.
»Die Richtung stimmt«, sagt er anerkennend, »Events für die schwule
Community in Köln.«
»Die soll doch ganz schön rege sein, stimmt’s?«
»Richtig, aber gerade deswegen reißen sich immer mehr der großen
Organisationen die Events unter den Nagel.«
»Und graben dir das Wasser ab.«
»So ist es. Über kurz oder lang werde ich mich verändern müssen. Wenn
ich meinen Lebensstandard halten will.«
»Jetzt könntest du ja Bauer werden«, schlage ich vor.
Er wirft mir einen vernichtenden Blick zu. »Und das, wo wir uns eben
noch so gut verstanden haben!«, klagt er.
»Aber was soll denn aus dem Hof deiner Eltern werden?«
»Mutter soll ihn verkaufen und sich zur Ruhe setzen. Das wäre für
alle Beteiligten am besten.«
Unser Gespräch verstummt, als wir das Gelände des Sägewerks
betreten, in das unser Pfad mündet. Mein Blick fällt sofort auf den hohen
Sägemehlberg. An dessen Fuß befindet sich ein mit rot-weißen Bändern
abgesperrtes Viereck.
»Genau hier …«, sagt Hein leise.
Wir treten nahe an die Absperrung heran und blicken auf einen
dunklen Fleck.
Seltsame Gedanken gehen mir durch den Kopf. Wenn es ein Jenseits
gibt, wird Alf da wieder mit seinem Bein vereinigt werden? Warum stinkt
Sägemehl, in das Blut sickert? Gleicht die Wunde an Alfs Kopf der meines
Bruders und der von Werner Arndt?
»Mögest du Frieden haben«, sage ich laut und werfe meinen
Feldblumenstrauß dorthin, wo noch vor wenigen Stunden der tote Alf gelegen hat.
»Ich lade dich zum Kaffee ein«, sagt Hein, »aber steck das Ding
vorher weg.«
Er deutet auf den Elektroschocker, der immer noch an meinem
Handgelenk baumelt.
»Wohin?«, frage ich. Ganz so weit sind meine Hosen noch nicht
geworden.
Hein zieht sich das Paisley-Seidentuch aus dem lindgrünen Hemd,
wickelt meine Waffe sorgsam darin ein, sodass nur noch die Schlaufe heraushängt
und reicht mir das Gebilde.
»Könnte jetzt glatt als Pralinenschachtel durchgehen«, meint er.
Wir bewegen uns an lärmenden Maschinen, riesigen Fahrzeugen,
Holztransportern, die wie Spinnenungeheuer aussehen, und geschäftigen Arbeitern
vorbei, überqueren die Bundesstraße und setzen uns im Ardenner Cultur Boulevard
gegenüber dem Hotel Balter in die Cafeteria des Grenzmarktes.
Ich habe einen Bärenhunger und verschlinge einen ganzen belgischen
Reiskuchen. Er schmeckt nicht schlecht, aber ich hätte ihn gern noch mit
Birnenkompott, Schlagsahne und Splittern aus schwarzer Schokolade angereichert.
Hein deutet aus dem Fenster.
»Wollen wir uns die Krippenausstellung ansehen?«
Beim Anblick des Schriftzugs KRIPPANA gefriert mir das Blut in den Adern.
»Das ist nicht dein Ernst!«
»Mein voller. Erstens kannst du nur durch Konfrontation dein Trauma
überwinden, und zweitens lohnt es sich wirklich. Ich gehe da gern hin.«
»In eine Orgie von Kitsch«, wehre ich ab.
»Klar gibt es da Kitsch, aber auch jede Menge Kunst. Du
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